Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zur Bertelsmann-Studie "Partizipation im Wandel"
Regensburg (ots)
Beinahe jeder Politiker, egal ob Bundestagsabgeordneter oder Gemeinderat, hat ein Problem. Die meisten Wähler trauen ihm nicht mehr über den Weg. Die Entscheidungen der Volksvertreter werden immer häufiger hinterfragt. Der Mensch, der nur alle Jahre mal ein paar Kreuzchen machen darf, begehrt auf. Das ist die Erkenntnis der Studie der Bertelsmann-Stiftung "Partizipation im Wandel", die am Freitag vorgestellt wurde. Zusammengefasst steht dort: Die Bundesrepublik habe Nachholbedarf in direktdemokratischen Verfahren. Mehr als zwei Drittel der 2700 Befragten wollen Entscheidungen selber treffen. Den Bürgern, so die Studie, reicht Wählen allein nicht mehr aus. Dabei wird die Demokratie als Staatsform nicht infrage gestellt. Die Autoren widersprechen ausdrücklich Vermutungen, wonach direkte Bürgerbeteiligung der repräsentativen Demokratie schade. "Wer sich an Bürgerentscheiden oder -dialogen beteiligt, geht mit höherer Wahrscheinlichkeit auch zur Wahl und umgekehrt", sagt die "Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg", Gisela Erler. Wiederholt fordert sie in ihrem Schlusswort eine "Politik des Gehörtwerdens" - das eigentlich nur eine Umschreibung einer Selbstverständlichkeit ist. Solche Studien der Bertelsmann-Stiftung, die sicher nicht ohne eigene Interessen veröffentlicht werden, darf man kritisch sehen - im Kern geht es aber um eine Debatte um unser politisches System, wer darin die Regeln bestimmt, Entscheidungen trifft und nicht zuletzt, ob Volksvertreter jede Bodenhaftung verloren haben. Welches Maß an Beteiligung darf die Gesellschaft für sich einfordern? Wo sind die Grenzen? All das sind Fragen, die zwar Jahrtausende älter sind als die nun vorgelegte Studie, aber es sind Fragen, die in einer Mediendemokratie, deren Technologie und Kommunikationskanäle immer mehr Mitsprache ermöglichen, wieder drängender werden - und das nicht erst seit Stuttgart 21 oder einer geplanten Stromtrasse quer durch Deutschland. Die befragten Politiker und Behördenchefs sehen das anders: Knapp 80 Prozent der Würdenträger wollen Entscheidungen nicht direkt vom Bürgerwillen abhängig machen. Ihre Aussagen stehen denen der Bürger teils diametral gegenüber. Politiker kontern das Begehren nach mehr direkter Demokratie so: Es ist gut, dass wir nur unserem Gewissen unterworfen sind. Wir müssen auch den Mut haben, unpopuläre Entscheidungen zu treffen (siehe Unterkünfte für Asylbewerber). Bitte macht uns nicht noch weiter handlungsunfähig. Möglichkeiten zur Teilhabe gibt es doch zur Genüge. Politische Prozesse lassen sich nicht immer auf Ja-und-Nein-Fragen bei Volksentscheiden festlegen. Wenn es nur um Mehrheiten geht, wer schützt dann Minderheiten? Dabei stellt sich gerade heute die Frage: Begünstigt die Eitelkeit und Unnahbarkeit (siehe Haderthauer) des bestehenden Politikbetriebs nicht gerade Populisten und Verdrossenheit? Die Legitimation einer parlamentarischen Demokratie leitet sich aus der Zustimmung ihrer Bürger ab. Doch dort wo, Bürger sich von ihren Vertretern nicht mehr repräsentiert fühlen, entsteht ein Nährboden für Verdrossenheit und Ablehnung. Das jüngste Beispiel dafür ist erst wenige Tage alt: In Sachsen entfallen fast 15 Prozent der Stimmen auf Protestparteien, die Wahlbeteiligung sinkt auf ein historisches Tief. All das passiert in einem Land, das derzeit in keiner Krise steckt. Mehr Beteiligung der Bürger stärkt zwangsläufig ihre Zufriedenheit mit Politikern, Entscheidungen werden transparenter, das Verständnis steigt. Dann steigt auch wieder die Wahlbeteiligung. Und das muss jedem Volksvertreter Ansporn sein.
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