Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Reinhard Zweigler zum Umbruch in der deutschen Parteienlandschaft
Regensburg (ots)
Politische Momentaufnahmen im Herbst 2014: CDU-Chef Horst Seehofer ruft, wie nebenbei in einem Interview, Angela Merkel zur nächsten Kanzlerkandidatin der Union für 2017 aus. Ja, wen sollten sie denn sonst nehmen? SPD-Chef Sigmar Gabriel übt gestern den Schulterschluss mit dem abgehalfterten Grünen-Spitzenmann Jürgen Trittin. Man kann sich Rot-Grün-Rot nach 2017 offenbar vorstellen. Die deutschnationale und euro-kritische "Alternative für Deutschland" (AfD) holt zweistellige Ergebnisse in Brandenburg und Thüringen. Und in Erfurt wird womöglich ein schwarz-rot-grünes Bündnis gebastelt. Man nennt die neueste Farbkombination bereits Afghanistan-Koalition. Mit einer Jamaika-Koalition - Union, Grüne und FDP - wird es aus bekannten Gründen nichts. Das deutsche Parteiensystem befindet sich in einem Umbruch unbekannten Ausmaßes. Und das liegt beileibe nicht nur an der aufmüpfigen AfD, die sich als wichtigste Protestpartei geriert und von rechts bis links Wählerstimmen absaugt. Währenddessen säuft die Piraten-Partei, die noch vor zwei, drei Jahren flott Landtage enterte, gnadenlos ab. Womöglich war die Bewegung nichts weiter als eine Sternschnuppe am deutschen Polit-Himmel. Nach einem kräftigen Aufleuchten schnell wieder verglüht. Die von zahlreichen Professoren getragene AfD könnte dagegen länger als die jugendliche Piraten-Partei auf der politischen Szenerie verweilen. So oder so laufen derzeit interessante Entwicklungen ab, auf welche die beiden, einst großen, Volksparteien, CDU/CSU sowie SPD, noch keine adäquate Antwort gefunden haben. Im Fall der AfD amüsiert eher das muntere Schwarze-Peter-Spiel. CDU und CSU erklären die Alternative flugs zum Problem für alle Parteien, wobei die Konkurrenz von Rechts schon kräftig im Revier der in die Mitte gerückten Merkel-Union "wildert". Die SPD sieht die Lucke-Partei dagegen ausschließlich als Fall für die Union an. Hilflos und ziemlich unsinnig ist beides. Und beiden liegt das Missverständnis zugrunde, Wähler und Wählerinnen "gehörten" einer Partei. Das stimmt natürlich nicht. Es gibt keine Erbhöfe und immer weniger jener Menschen, die man früher "Stammwähler" nannte. Heutige Wähler sind sprunghafter, vielleicht auch pragmatischer und weniger ideologisch festgelegt als noch vor ein, zwei Jahrzehnten. Linke Politiker verzweifeln über Parteigrenzen hinweg schier an dem Phänomen, dass eine klare Mehrheit der Menschen, abstrakt gefragt, für mehr Gerechtigkeit, Klimaschutz, bessere Bildung für alle, also vorgeblich "linke" Themen seien, dann an der Wahlurne aber vor allem konservativ und rechts wählten. Offenbar sind es vor allem die Werte und die Personen, die eine Partei verkörpert, die sie anziehend und wählbar macht. Die vertrauenswürdige Angela Merkel mit einer eher müden Union hängt die emsig mitregierende SPD mit einem einst so sprunghaften Parteichef Sigmar Gabriel glatt ab. Wenn die AfD Sorgen der Menschen genauer - oder überhaupt erst - artikuliert als etablierte Parteien, dann kann das für den demokratischen Wettbewerb nur gut sein. Merkel und Seehofer wollen nun mit "guter Politik" gegen die Euro-Kritiker gegenhalten. Donnerwetter, das hätte ihnen aber auch ohne die Herausforderung durch die AfD einfallen können. Gleichwohl erzwingen Protest-AfD, konservative Freie Wähler, machtbewusst-fundamentale Linke, enttäuschte Grüne oder die fast verschwundene FDP geradezu eine neues Nachdenken über mögliche Regierungsbündnisse. Die Alternative wäre nur eine: immer wieder eine große Koalition.
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