Mittelbayerische Zeitung: Die Krisen-Wiesn
Feiern trotz des Flüchtlingsdramas - darf man das? Die Antwort darauf muss jeder für sich finden. Leitartikel von Katia Meyer-Tien
Regensburg (ots)
Pünktlich wie der erste Herbstnebel wabert wie in jedem Jahr die Debatte durch den Süden der Republik: Kommerz oder Kultur? Tradition oder Theater? Lieben oder lästern? Das Oktoberfest polarisiert. Zuverlässig und immer wieder. Doch dieses Mal ist etwas anders. Da sammeln sich unter dem Hashtag #oktoberfestung wütende Kommentare vermeintlich wohlmeinender Menschen, eine Kolumnistin einer renommierten Tageszeitung ruft offen und ernsthaft zum Boykott auf: Dass München, seit Wochen Ankunftsort Zehntausender verzweifelter Flüchtlinge, in den kommenden 14 Tagen zum Ziel von sechs Millionen feierfreudigen Wiesnbesuchern wird, lässt die Emotionen hoch kochen. Schunkelnde Bierzeltbesucher und verängstigte Bürgerkriegsopfer, das sind zwei Bilder, die einfach nicht zueinander passen wollen. Dabei ist die Herausforderung, nüchtern betrachtet, zuallererst eine logistische. Am Nadelöhr Hauptbahnhof werden zusätzlich zu den täglich rund 400 000 regulären Fahrgästen in den kommenden Wochen rund zwei Millionen Wiesnbesucher erwartet, die ankommen und - teils erheblich alkoholisiert - wieder abfahren. Die Zahl der ankommenden Flüchtlinge lässt sich noch nicht abschätzen. Das bedeutet: Zusätzliche Züge und zusätzliche Sicherheitskräfte, und es bedeutet, dass es eng wird am Hauptbahnhof, dessen Starnberger Flügelbahnhof noch immer für die Ankunft von Flüchtlingen abgesperrt ist und an dem noch immer die weißen Zelte stehen, in denen die Ankömmlinge versorgt und verteilt werden. Und doch: Vertreter von Stadt, Polizei und Bahn geben sich gelassen und zuversichtlich. Auf der Festwiese selber ändert sich nichts, man bleibt beim bereits bewährten Sicherheitskonzept. Hinweise, dass sich unter den ankommenden Flüchtlingen potenziell gefährliche Attentäter befinden, gibt es momentan keine. Aber natürlich ist die logistische, die rationale Herausforderung nicht die, die wirklich bewegt. Es ist die moralische Frage: Feiern trotz Flüchtlingskrise - darf man das? Die jüngsten Kommentare der Politiker - Horst Seehofer, der sich wünscht, dass München während der Wiesn nicht mehr der Anlaufpunkt für die ankommenden Flüchtlinge ist, der er in den vergangenen Wochen war; Wiesnchef Josef Schmid, der auf die Frage nach Vereinbarkeit von Oktoberfest und Flüchtlingselend auf das Spendenkonto für Flüchtlinge verweist; Innenminister Joachim Herrmann, der glaubt, muslimischen Ankömmlingen keine alkoholisierten Festbesucher zumuten zu können - klingen auch deshalb so unbeholfen und zynisch, weil sie dieses moralische Dilemma vollkommen auszuklammern scheinen. Und es ist ja auch eine Frage, die sich nicht beantworten lässt. Natürlich scheint es unangebracht, auf Tischen und Bänken zu tanzen, wenn nur ein paar hundert Meter entfernt traumatisierte, erschöpfte, verzweifelte Menschen um ihre Zukunft und das Leben ihrer Angehörigen bangen. Ebenso unangebracht, wie im Bikini an dem Strand zu liegen, an dem Nachts Hunderte Flüchtlingsboote ankommen. Die Flüchtlingskrise ist auch deswegen eine solche Herausforderung für die Wohlstandsgesellschaft, weil sie ihr erbarmungslos den Spiegel vorhält und den Konsumgewohnheiten des einzelnen die radikale Alternative entgegensetzt. Die Konsequenz daraus muss jeder für sich ziehen. Es ist Blödsinn, das Oktoberfest zum Ort der Begegnung hochstilisieren zu wollen oder eine Invasion der Wirtsbudenstraße durch Asylsuchende zu fürchten: Kaum ein Flüchtling wird sich einen Wiesnbesuch überhaupt leisten können. Und klar ist auch: Weder ein Wiesnboykott noch ein hämischer Kommentar auf Twitter werden die Situation der Flüchtlinge in irgendeiner Form verändern. Der Kauf eines Lebkuchenherzens auf der Festwiese, dessen Erlös an die Flüchtlingshilfe gespendet wird, vielleicht schon eher.
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