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Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel von Christian Kucznierz zu Türkei/Erdogan

Regensburg (ots)

Als das osmanische Reich in den letzten Zügen lag, machte der Begriff vom "kranken Mann vom Bosporus" in Europa die Runde. Er drückte die Sorge darüber aus, wie dieses Land weiter agieren würde, was an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident, zwischen Asien und Euopa geschehen würde. Heute, 100 Jahre später, ist die Sorge um die Türkei so aktuell wie damals. An der Reaktion auf den gescheiterten Putsch gegen Recep Tayyip Erdogan wird sich zeigen, mit was für einem Land wir es zu tun haben. Es gibt Anzeichen, in welche Richtung der Staatschef denkt. Die Inhaftierung von mittlerweile 6000 Menschen nach dem Aufstand, die Haftbefehle auch gegen Richter haben den Charakter einer Säuberungsaktion, und das, obwohl die Zahl der Putschisten offenbar gering genug gewesen ist, um ihr Vorhaben mehr einem verzweifelten Versuch, denn einem geplanten Vorgehen gleichen zu lassen. Geplant aber scheint die Reaktion Erdogans, oder zumindest dürften die Ereignisse der Freitagnacht einen willkommenen Anlass geliefert haben, mit Gegnern in allen Ebenen der türkischen Gesellschaft abzurechnen. Der Staatschef arbeitet seit Jahren daran, sein Land nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Widerstände, wie die Proteste 2013, ließ er niederknüppeln, Freiheiten einschränken. Es ist eine ironische Wendung, dass derselbe Mann, der am liebsten das Internet abschalten lassen würde, weil dort Protest gegen ihn organisiert und Kritik an ihm geäußert werden kann, auf der Flucht via Smartphone Kontakt zu seinen Anhängern aufnahm. Erdogan ist kein Demokrat im westlichen Sinne. Er benutzt den Krieg gegen den IS vor seiner Haustüre, um gegen die kurdische Opposition vorzugehen. Er nutzt die Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa als Druckmittel für seine außenpolitischen Vorstellungen und als Hebel zur Einflussnahme auf andere Staaten - siehe die Affäre Böhmermann. Mit dem Putsch kann Erdogan seine autokratischen Fantasien vollends ausleben. Es ist richtig, dass ein großer Teil der türkischen Bevölkerung mit seiner Unterstützung für den Staatschef eine große Rolle beim Scheitern des Putsches spielte. Dass aber nun zehntausendfach auf Twitter per Hashtag die Wiedereinführung der Todesstrafe für die Aufständischen gefordert wird, und Erdogan selbst mit dieser Idee liebäugelt, zeigt, wie brisant die Lage ist - und wie sehr eine moderierende Kraft an der Spitze des Staats notwendig wäre. Die Türkei unter Erdogan ist immer schon ein gespaltenes Land, das zwischen Moderne und Rückwärtsgerichtetheit schwankt. Der Präsident will eine Annäherung an die Europäische Union und hat mit dem Flüchtlings- deal einen großen Schritt in diese Richtung gemacht. Doch ein Land, dass die Todesstrafe einführen möchte, ein Land, dass nun vollends zu einer gelenkten Demokratie werden dürfte, ist kein Partner für Europa. Ein Staat, in dem das Militär aus Sorge um die Demokratie gegen die Regierung putscht, ist genauso besorgniserregend wie ein Staat, in dem ein Putsch von wem auch immer inszeniert wurde, um diesen als Vorwand für eine Revolution von oben zu nutzen. Vieles hängt jetzt davon ab, ob Erdogan überhaupt noch für den Rat eines anderen Staats- oder Regierungschefs offen ist, ob er sich in seinem Zorn mäßigen lässt oder nicht. Besonnenheit, nicht Härte wären infolge des Putsches nötig. Der türkische Staatspräsident muss sich im Klaren darüber sein, dass es seine Bürger waren, die sich gegen die Putschisten gestellt haben - egal ob freiwillig oder nicht. Er darf ihnen zum Dank die Freiheiten, die sie noch genießen, nicht in einer Erdokratie entziehen.

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