Mittelbayerische Zeitung: Regierung an die Macht
Kartell ja oder nein - es läuft etwas ganz anderes schief: Die Politik hat die Hoheit und die nötige Distanz verloren. Leitartikel von Bernhard Fleischmann
Regensburg (ots)
Wir müssen reden. So beginnen Gespräche, wenn jemand ein grundlegendes und/oder ihm wichtig erscheinendes Problem aus der Welt schaffen will. Der Gesprächsbedarf in der deutschen Automobilindustrie war wohl immens, wenn denn die jüngsten Enthüllungen tatsächlich zutreffen. Nach dem Diesel-Skandal fällt der - bisherigen? - Vorzeigebranche ein Kartellvorwurf auf die Füße, der eine wichtige Querverbindung zum Diesel-Betrug haben soll. Das tut weh. Ob die Absprachen wirklich so weit reichten, dass man Spezifikationen von Cabrio-Verdecken oder Airbags festlegte, wissen wir nicht zweifelsfrei. Wenig Zweifel bestehen daran, dass die Verdächtigten in der Branche miteinander sprechen, zumeist in freundschaftlicher Manier. Man kennt und schätzt sich durchaus, auch wenn öffentlich Spitzen gegeneinander ausgeteilt werden. Im Grunde aber verfolgen alle die gleichen Ziele, und die erreicht man leichter miteinander. So weit, so verständlich. Das entscheidende Problem findet sich an anderer Stelle: Der ungesunden Nähe von Autoindustrie und Politik. Das ist kein klassisches Kartell mit Preisabsprachen. Aber es ist sozusagen ein Interessenskartell, das Wettbewerbsbedingungen im gegenseitigen Interesse aushandelt. Möglich ist das nur, weil die Machtverhältnisse aus der Balance geraten sind. Von wegen Primat der Politik. Stattdessen geben die Autobauer unseren Bundes- und Landesregierungen, gleich welcher Couleur, die Richtung vor. Es ist ihre schiere Größe, die der Autoindustrie diesen Einfluss ermöglicht. Sie zählt 800 000 direkt Beschäftigte, inklusive Zulieferern und indirekt abhängigen Jobs geht es um mehrere Millionen Arbeitsplätze. Man stelle sich nur die Oberpfalz oder Niederbayern ohne Autoindustrie vor - schlagartig läge die Arbeitslosenquote weit im zweistelligen Bereich. Die Branche argumentiert oft und gerne mit ihrer Bedeutung, um ihr missliebiges Vorhaben abzubiegen. Das erinnert an die Stellung der Banken in der Finanzkrise. Heute sind die Autobauer "too big to fail" - zu wichtig, um sie fallen lassen zu können. Sie gelten als systemrelevant in Deutschland. Das ist ungesund für eine Volkswirtschaft und für eine Gesellschaft. Nun sollten wir uns nicht wünschen, dass sich diese Situation auflöst, weil die Autobauer gegen die Wand knallen. Aber die Bundesregierung muss sich emanzipieren, die Hoheit zurückgewinnen und nötige Regulierungen durchsetzen. Die bisherige Laxheit hat in jenes Desaster geführt, in dem sich die Branche befindet. Bei den Umweltanforderungen an die Autos waren sich die deutschen Hersteller so einig wie eineiige Zwillinge bei der Wahl der Mutter: Die geplanten Vorgaben aus Brüssel waren ihnen zu scharf. Sie betrieben massives Lobbying in Berlin für weichere Bestimmungen - mit Erfolg. Brüssel musste geplante Schadstoff- und Verbrauchsgrenzen auf deutschen Druck hin abmildern. Weil sich Daimler, Audi und BMW mit ihren leistungsstarken Luxusmodellen dennoch schwer taten, diese zu erreichen, mussten mehr Diesel her. Dumm nur, dass diese trotz steuerlicher Hilfen aus Berlin immer noch teuer sind. Gespart wurde dann an der Schadstoffreinigung, mithilfe durchaus unterschiedlicher Lösungen. Die einen erfanden einen Prüfstandsmodus, andere eine simple Zeitschaltuhr, wieder andere lassen die Reinigung nur in einem engen Temperaturfenster wirken. Sage keiner, ein Kartell habe die Kreativität der Ingenieure beim Betrügen behindert. Übrigens auch nicht bei den italienischen oder französischen Kollegen. Und die Behörden? Sie strengten sich furchtbar dabei an, ja nicht hinzuschauen. Im Grunde subventionierten die Autoländer ihre Industrie, indem sie ihr stillschweigend erlaubten, gegen Gesetze zu verstoßen. Die wirtschaftlichen Interessen der Autoindustrie wogen stets schwerer als die Gesundheitsinteressen der Menschen. Es reicht eigentlich, wenn unsere Bundesregierung genau dieses Verhältnis umdreht. Strenge Kontrolle der Vorgaben, Abschaffung der Diesel-Bevorzugung, weg mit der Förderung großer Dienstwägen, dazu attraktive öffentliche Verkehrsmittel - so setzen sich die langfristig tragfähigsten Lösungen durch. Man muss unseren Herstellern die Chance geben, sich an den entscheidenden Stellen anzustrengen. Bislang ist das nicht der Fall. Darüber sollten wir jetzt reden.
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