Mittelbayerische Zeitung: Kommentar zur Bundestagswahl
Regensburg (ots)
Mit Frust und Lust
von Claudia Bockholt, MZ
Zugegeben: Auch die Mittelbayerische hat in den vergangenen Wochen gelegentlich orakelt, dass das Rennen um die Kanzlerschaft und die Machtverhältnisse im Bundestag wohl schon gelaufen sei. Zu stabil scheint derzeit die Mehrheit für Angela Merkel und gegen einen Richtungswechsel in Berlin. Selbst wenn es so kommt: Ein Grund, am 24. September zu Hause zu bleiben, ist das nicht. Die freie Wahl zu haben ist in Deutschland eine Selbstverständlichkeit. Damit es so bleibt, sollte jeder überzeugte Demokrat seine Kreuzchen machen. Man muss den Blick gar nicht bis in die Türkei oder die USA schweifen lassen. Auch viele Deutsche hegen Misstrauen gegen "die da oben", ihre Volksvertreter. Sie lehnen nicht grundsätzlich die Demokratie ab. Doch jeder zweite Deutsche findet, dass deren Institutionen und Akteure nicht ordentlich arbeiten. Der deutsche Frust kommt angesichts der vielen Schurken- und Willkürstaaten weltweit wie ein Luxusproblem daher. Populisten seien "enttäuschte Demokraten", analysierte jüngst die Bertelsmann-Stiftung. Nicht jeder scharfe Kritiker ist Populist. Echter populistischer Agitation muss man aber ein Kreuz am rechten Fleck entgegensetzen. Das große Feld der Deutschen, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden unserer Verfassung stehen, darf Scharfmachern und Extremisten - ganz egal ob rechts oder links der Mitte - keinen Millimeter weichen. Die Wahl zu haben, ist immer ein Privileg - und sei es auch nur die Wahl zwischen "weniger gut" und "nicht so toll". Keine Demokratie, keine Partei, kein Politiker ist frei von Fehlern. Auch der Wähler ist es nicht. Er wählt mit Bedacht oder aus Protest, nach Sympathie, aus alter Gewohnheit oder aus dem Bauch heraus - oder weil er auf einen machtversessenen Autokraten hört, der ihm aus der Ferne diktiert, wo er gefälligst sein Kreuz machen soll. Die Politik muss mit Bürgern leben, die selten Vertrauensvorschuss gewähren, die keinen langen Atem und selten das große Ganze im Blick haben. Populismus verfängt bei denen, die vor der Komplexität unserer Zeit kapitulieren und sich danach sehnen, dass es für jedes noch so schwierige Problem eine hübsch einfache Lösung gibt. Wer es als Politiker ernst meint, dringt zu diesen spätromantischen Weltflüchtlingen kaum noch durch. Zudem: Im atemlosen Informationszeitalter heben und senken die Menschen den Daumen schneller denn je. Wer da mangelnde Nachhaltigkeit im politischen Geschäft beklagt, sollte sich gelegentlich an die eigene Nase fassen. Wählen zu gehen ist nicht nur Recht, sondern auch Pflicht für jeden, der als Staatsbürger ernstgenommen werden will. Das sollte besonders Erst- und Jungwählern vor Augen geführt werden. Wie schwer es ist, die nachwachsende Generation zu erreichen, hat gerade das Interview mit Angela Merkel und Youtubern gezeigt: Mehr als nettes Geplänkel kam nicht herum beim Versuch der Kanzlerin, sich auf Augenhöhe mit juvenilen Quasselkaspern zu begeben. So eine einstündige Polit-Werbeshow mit Video-Stars verpufft wirkungslos. Schulen und Elternhaus müssen ran. Das bedeutet: am 24. September am besten mit Ehepartner und Kinderschar Richtung Wahllokal spazieren. Wer den Urnengang schon als Kind und Heranwachsender als Selbstverständlichkeit erlebt, wird ihn als Erwachsener nicht aus Wurstigkeit auslassen. Wenn er seine Stimme abgegeben hat, darf der Bürger sich auch mit Fug und Recht über die Regierungspolitik beschweren. In Frankreich verliert Präsident Emmanuel Macron gerade massiv an Zustimmung. Die 51,3 Prozent der Franzosen, die bei der Parlamentswahl gar nicht mit abgestimmt haben, sollten sich mit Kritik zurückhalten. Sie hatten es in der Hand. Für Prinzessinnen gibt es ein erfrischend lebenslustiges Motto. Der müde gewordene, gekränkte Souverän namens Wahl-Volk darf ihn sich gerne zu Herzen nehmen: "Hinfallen. Aufstehen. Krönchen richten. Weitermachen."
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