Mittelbayerische Zeitung: "Es gibt kein Zurück"
Kommentar zu "Jamaika-Sondierungen"
Regensburg (ots)
Im Moment plustern sich die vier Jamaika-Parteien auf, als sei noch Wahlkampf oder demnächst wieder. Noch sondieren sie offenbar nicht allein mit dem Ziel, einen Konsens zu finden, sondern mindestens gleichzeitig auch mit dem Ziel, nicht schuld an einem möglichen Scheitern zu sein. Davon zeugen die Vorfestlegungen in Interviews vor den Treffen. Ebenso die nachträglichen unterschiedlichen Interpretationen, wenn dann endlich etwas beschlossen wurde, auch wenn das kaum mehr als ein Allgemeinplatz war. Oder die munteren Durchstechereien gegenüber Journalisten. Wer immer auf Neuwahlen spekuliert, die die unausweichliche Folge eines Scheiterns wären, sollte einen Blick auf die jüngsten Umfragen werfen: Einen Monat nach der Bundestagswahl kommen die vier größten Meinungsforschungsinstitute übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Bürger heute ziemlich exakt so abstimmen würden wie am 24. September. Und zwar in Kenntnis der Tatsache, dass nur noch ein Bündnis aus Union, FDP und Grünen geht. Das Wahlverhalten war also Absicht, kein Versehen. Daher kann man sich gut vorstellen, wer bei möglichen Neuwahlen profitieren würde: Alle, die in der Opposition sind, vor allem die AfD. Das Zweite ist: Der bisherige Sondierungsprozess selbst hat die Erwartungen noch vergrößert. Jedes fröhliche Bild auf dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft hat dazu beigetragen. Aber auch das Abstimmungsverhalten bei der konstituierenden Sitzung des Bundestages in der zurückliegenden Woche, als die neue Koalition bereits hielt. Auch Eindrücke sind Fakten. Ein Zurück ist derzeit kaum noch vorstellbar. Wenn Neuwahlen keine Option sind, ist es nur der Kompromiss. Bei so unterschiedlichen Kräften ist es allerdings keine Lösung, dass man krampfhaft Kompromisse auch dort sucht, wo man sich diametral gegenüber steht. Das wäre Konsenssoße. Vielmehr müssen die Partner sich gegenseitig auch Siege gönnen, wenigstens kleine. Und zwar dort, wo es um ihre Identitäten geht. Die Grünen zum Beispiel können keiner Politik zustimmen, die die Klimaziele nicht praktisch umsetzt. Ein verbindlicher Plan dazu wird ihr Mindestpreis sein. Der Kohleausstieg kann dazu gehören, muss es aber nur begrenzt, wenn es andere Wege gibt. Die aufzuzeigen, wäre jetzt die Aufgabe von Union und FDP. Auch wenn es wehtut. Die CSU kann es nicht hinnehmen, wenn den Bürgern die Angst vor einer Wiederholung des Flüchtlingszustroms von 2015 nicht genommen wird. Die starke Begrenzung des Familiennachzugs kann dazu gehören, muss es aber nicht, wenn das Gesamtpaket - von Abschiebungen bis sichere Herkunftsländer - stimmt. Hier müssten die Grünen sich bewegen. Auch wenn es wehtut. Die FDP braucht den Abbau des Solidaritätszuschlages als Mindestmaßnahme zur steuerlichen Entlastung der Bürger. Aber sie muss akzeptieren, wenn davon zunächst nur die kleinen und mittleren Einkommen profitieren. Auch wenn es wehtut. Das sind die Hauptstreitpunkte. Sie sind schwierig, aber Lösungen sind denkbar. Die Bürger erwarten gar nicht, dass jeder komplett durchsetzt, was er im Wahlkampf gefordert hat. Sie erwarten, dass bald wieder regiert wird. Die beteiligten Parteien sollten sich zudem klarmachen, dass Jamaika keine Heirat auf ewig ist. Es ist nur ein Bündnis für vier Jahre. Manche Forderung kann man sich auch aufheben für 2021. Die Wähler werden das eher verstehen als ein Scheitern jetzt.
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