Wirtschaft ohne Stoßdämpfer
Schon in normalen Zeiten können vier von zehn Amerikanern eine unerwartete Rechnung nicht bezahlen
Leitartikel von US-Korrespondent Thomas Spang
Regensburg (ots)
Neuneinhalb Jahre vergingen seit dem Ende der großen Rezession, die 2008 mit dem Platzen der Immobilienblase begonnen hatte. Während dieser längsten Aufschwungphase in der Geschichte schuf die US-Wirtschaft rund 22 Millionen neue Arbeitsplätze. Binnen von nur vier Wochen vernichtete der Corona-Virus all diese Jobs und verwandelte die Vollbeschäftigung in Massenarbeitslosigkeit. Das ist die Kehrseite eines Arbeitsmarkts, dessen Flexibilität oft unkritisch gepriesen wird. Arbeitgeber können Beschäftigte darin problemlos heuern und feuern sowie die Zahl an Arbeitsstunden herauf- und heruntersetzen. Selbst in den jäh zu Ende gegangenen "Boom"-Zeiten reichte für viele Amerikaner ein Job nicht, die rasant wachsenden Kosten für Gesundheit, Wohnraum und Bildung zu begleichen. Laut einer Studie der amerikanischen Notenbank FED von 2018 haben 40 Prozent der US-Bürger nicht genügend Ersparnisse eine unerwartete Rechnung über 400 US-Dollar zu bezahlen. Die Corona-Pandemie legt schonungslos die Sollbruchstellen einer Wirtschaft ohne soziale Stoßdämpfer offen. Das Foto einer mehrspurigen Schlange an Autos, die in San Antonio im US-Bundesstaat Texas vor einer Lebensmittelbank warten, illustriert den rasanten Absturz vom "Boom" zum "Bust". Das "Peterson Institute", eine Denkfabrik in Washington, prognostiziert bis zum Frühsommer eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent. Unter denen, die nicht von zuhause arbeiten können, wird eine doppelt so hohe Erwerbslosenrate erwartet. Disproportional davon betroffen sind Arbeiter ohne College-Abschluss und Angehörige von Minderheiten. Damit verschärft die Pandemie das ohnehin schon krasse Wohlstandsgefälle, das große Teile der Bevölkerung vom Zugang zu bezahlbarer Gesundheit und Bildung ausschließt. Eine Wirtschaft ohne Stoßdämpfer hat während der Pandemie tödliche Konsequenzen. Erste offizielle Statistiken aus New York zeigen, dass in ärmeren Nachbarschaften seltener auf den Erreger getestet wird, mehr Menschen erkranken und weniger die Infektion überleben. Schwarze und Hispanics erliegen dem Virus zwei Mal so häufig wie weiße Stadtbewohner. Drastisch verschärft wird die Krise durch den Wegfall von Krankenversicherungen, die in den USA an den Job gebunden sind. Das "Institut für Wirtschaftspolitik" in Washington geht von bereits 9,2 Millionen Menschen aus, die mit dem Arbeitsplatz ihre Versicherung verloren haben. Donald Trump weiß, was Massenarbeitslosigkeit für die Aussichten auf eine Wiederwahl bedeutet. Deshalb versucht er, Sündenböcke für sein sträfliches Versagen zu finden: die Chinesen, die Weltgesundheitsorganisation oder die Gouverneure der Bundesstaaten. Und er setzt auf dasselbe Rezept, das ihn 2016 ins Weiße Haus verhalf. Trump spaltet die Gesellschaft, indem er Ressentiments gegen "die da oben" schürt. Diesmal ermutigt er zu Protesten gegen liberale Eliten, die kleine Leute angeblich daran hindern, arbeiten zu gehen, während sie selber aus dem sicheren Homeoffice heraus Geld verdienen. In wichtigen Wechselwähler-Staaten wie Michigan, Wisconsin und Ohio Wirkung, wo bereit bis zu einem Viertel der Beschäftigten ihren Job verloren haben, könnte das Wirkung zeigen. Denn ohne soziales Netz, funktionierendes Gesundheitssystem oder Ersparnisse, sehen Millionen Amerikaner bald keinen anderen Ausweg, als ihr Leben für einen oft schlecht bezahlten Job zu riskieren. Das ist die Logik in einer Wirtschaft ohne Stoßdämpfer, die Trump schon in der Vergangenheit zynisch ausnutzen verstand.
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