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Landeszeitung Lüneburg: "Parole aus der Berliner Käseglocke" - Wolfgang Jüttner gegen weitere Große Koalition

Lüneburg (ots)

Kritik aus den eigenen Reihen, Mitgliederschwund,
Affärenschlagzeilen aus dem Parteibezirk Weser-Ems: Der "Zoff nach 
der Wahlschlappe im Januar war größer als nach anderen 
Landtagswahlen", räumt SPD-Fraktionschef Wolfgang Jüttner ein. 
Dennoch sieht Jüttner die SPD im Aufwind, empfindet dabei aber 
Gedankenspiele über eine erneute große Koalition als unnötige 
Querschüsse.
Wie sehr schmerzt es, dass über die Ambitionen von Chris"tian 
Wulff spekuliert wird, während die Landes-SPD vorwiegend mit 
Personalquerelen in die Nachrichten kommt?
Wolfgang Jüttner: Es belustigt mich, von Wulffs Nicht-Ambitionen 
zu lesen. Mehrfach zu betonen, keinen Machthunger zu haben, obwohl er
nach zwei deftigen Wahlniederlagen gegen Schröder noch ein drittes 
Mal angetreten ist: Das ist eine Schmierenkomödie. Ich habe schon das
Gefühl, dass Wulff aus Niedersachsen weg will. Möglicherweise spürt 
er, dass die Phase zu Ende geht, in der es für ihn gut aussah. Unsere
Aufgabe wird sein, deutlich zu machen, wofür wir inhaltlich stehen. 
Es stimmt zwar, dass nicht alle Schlagzeilen über uns positiv waren. 
Dadurch wird die wirklich gute Arbeit der Fraktion überlagert. 21 von
48 Fraktionsmitgliedern sind neu im Landtag, alle Abgeordneten sind 
hoch motiviert.
Hat die SPD mittlerweile ihre verheerende Wahlschlappe vom Januar 
aufgearbeitet?
Jüttner: Unsere Rolle als Oppositionsfraktion ist, klare 
inhaltliche Alternativen zum Regierungshandeln aufzuzeigen. Und dies 
geschieht ohne Wehklagen in dem Bewusstsein, es besser zu können als 
die Regierung. Die Schlappe zu verarbeiten, ist vor allem eine 
Aufgabe für die Partei. Aber natürlich sind alle Fraktionsmitglieder 
auch Teil der Partei. Insofern wissen sie, dass ein Grund für die 
Schlappe die große Koalition in Berlin war, die eine Polarisierung in
einem Landtagswahlkampf erschwerte. Der zweite Grund liegt in der 
Historie. In der Bundesrepublik wurde nur ein einziges Mal eine 
Regierung nach nur einer Wahlperiode abgewählt. Es gibt eine Kultur 
der zweiten Chance für die Regierung. Zum dritten hätten wir nur eine
Chance gehabt, wenn uns eine Polarisierung gelungen wäre. Im 
Gegensatz zu Koch in Hessen verfolgte Wulff allerdings eine 
Umklammerungsstrategie. Jeden Angriff von uns hat Wulff pariert, 
indem er das Thema zu seinem machte, beispielsweise bei der 
Gesamtschule. Er hat sich taktisch sozialdemokratisiert im Wahlkampf.
Zudem gelang es Wulff, in einem präsidialen Führungsstil alles 
Schwächeln von Regierungsmitgliedern von sich abperlen zu lassen. Am 
Ende der ersten Wahlperiode funktioniert das noch, am Ende der 
zweiten nicht mehr. Das alles waren aber keine Gründe, die wir hätten
abstellen können.
Worüber wir nachzudenken haben ist, ob die Partei organisatorisch 
schlagkräftig genug ist. Da gibt es Handlungsbedarf.
In Sachen Spitzenkandidat gab es hier und da Kritik. Aber ich denke, 
auch andere hätten kein besseres Ergebnis erzielt. Ich kreide mir an,
dass das Thema der Verkürzung der gymnasialen Oberstufe von uns nicht
aufgegriffen wurde.
Dazu gelang es nicht, in der Partei Aufbruchstimmung gegen die 
negativen Umfrageergebnisse zu erzeugen. Als Spitzenkandidat fällt 
diese Motivation leichter. Ohne eine gewisse autosuggestive 
Siegesgewissheit könnte man einen solchen Wahlkampf nicht 
durchstehen.
Hat Ihr Wahlslogan "Gerechtigkeit kommt wieder" der Linken in die 
Karten gespielt?
Jüttner: Unser Wahlkampfkonzept zielte darauf ab, die 700EUR000 
Anhänger, die von uns 2003 zu den Nichtwählern abgewandert waren, 
zurückzugewinnen. Wir haben ein Alleinstellungsmerkmal -- und das ist
Gerechtigkeit, deshalb haben wir da angeknüpft. Leider haben manche 
unseren Slogan missverstanden als Abgrenzung von der Bundes-SPD in 
einer vermeintlich ungerechten großen Koalition. Das hat uns nicht 
geholfen. Ein Ziel dabei war, die Linkspartei klein zu halten. Das 
haben wir massiv verfehlt. Heute sagen die Wahlforscher, das 
Fünf-Parteien-Sys"tem wird in den nächsten Jahren Bestand haben. 
Dennoch haben wir 2008 doppelt so viele Wähler an die Nichtwähler 
verloren wie an die Linke. Es macht also keinen Sinn, hinter der 
Linken hinterherzulaufen.
Wir stehen programmatisch besser da als wir wahrgenommen werden und 
als wir selbst signalisieren. Ich habe auch kein Problem damit, stolz
da"rauf zu sein, wie die rot-grüne Koalition den Reformstau auflöste 
oder wie sich die SPD in der großen Koalition schlägt. Es besteht 
kein Anlass, sich immer von sich selbst zu distanzieren.
Aber haben Sie das nicht selbst gemacht, als sie Parteichef Beck 
dabei unterstützten, Hartz IV nachzubessern?
Jüttner: Nein, weil auch gutgemeinte Gesetzesvorhaben nicht immer 
und ewig gut sein müssen. Es ging nicht darum, sich zu distanzieren, 
sondern nach Jahren Anpassungen vorzunehmen, weil sich auch die 
Rahmenbedingungen geändert haben. Richtig war die Zusammenlegung von 
Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Gleiches gilt für das Prinzip "Fördern
und fordern". Die Einführung der Pauschalierung warf aber zum 
Beispiel Probleme auf bei Kindern in Familien, die von Grundsicherung
leben. Aber es gibt auch in der SPD Gegner von Hartz IV, die 
Phänomene wie Niedriglohnsektor und Kinderarmut Hartz IV zuschreiben.
Das ist falsch.
Hat die SPD ausgerechnet in der Sozialpolitik eine Chance, ihr 
Profil zu schärfen, wo die Konkurrenz immer die radikalere These 
aufstellen kann?
Jüttner: Wir haben keine Chance, wenn wir mit der Linken in einen 
Wettbewerb um fundamentalistische Forderungen eintreten. Wir können 
nur auf die Rationalität der Bevölkerung bauen, die ein Gespür dafür 
hat, welches Konzept auf Dauer trägt. Die SPD-Fraktion im Landtag 
geht professionell mit der Linken um, das heißt: Wir erheben sie 
weder zu Märtyrern, indem wir sie ausgrenzen, noch zu Helden, indem 
wir ihren radikalen Maximalforderungen nacheifern. Entweder, die 
Linke ist mittelfristig entzaubert, weil Radikalität auf Dauer nicht 
trägt. Oder sie vollzieht mehrere Häutungen und ist dann 
parlamentstauglich. Die Teilhabe an Koalitionen hat zum Beispiel die 
Linke entzaubert, danach hat sich ihr Wähleranteil in Berlin und 
Mecklenburg halbiert.
Hannovers OB Stephan Weil und der Göttinger Bundestagsabgeordnete 
Thomas Oppermann konstatierten jüngst ein "Führungsproblem". Kann ein
Bundestagsmitglied als Parteivorsitzender im Land ausreichend Flagge 
zeigen?
Jüttner: Ja. Das funktioniert in anderen Bundesländern auch. Ein 
Führungsproblem haben wir nicht, lediglich eine offene Personalie: 
Das ist die Spitzenkandidatur 2013. Aber da sind wir uns einig, dies 
nach der Bundestagswahl 2009 zu entscheiden.
Derzeit ringen die SPD-Bezirke um den größtmöglichen Einfluss. Ist
Proporzdenken die richtige Antwort auf den erheblichen 
Mitgliederschwund?
Jüttner: Die Mitgliederentwicklung ist ein zusätzliches Argument, 
die Organisationsstruktur der Niedersachsen-SPD zu optimieren. Die 
Bezirke sind historisch gewachsen, haben aber eigentlich keine 
politische Legimitation mehr, weil es kein Äquivalent auf der 
politisch-administrativen Ebene gibt, etwa Bezirksregierungen. Dass 
der Landesverband Niedersachsen vier Mitglieder hat, von denen jeder 
Beschlüsse blockieren kann, passt nicht mehr in die heutige Welt. Bis
auf Hessen haben alle anderen Landesverbände die Bezirke so 
zusammengelegt, dass sie mit den Entscheidungsebenen der 
Landespolitik deckungsgleich sind. Das ist auch unser Ziel.
Swantje Hartmann wurde der Rücktritt wegen einer Finanzaffäre 
nahegelegt, in die ihr Ex-Partner verwickelt ist. Gegen sie selbst 
wird nicht ermittelt. Hat die SPD überreagiert?
Jüttner: Wäre Swantje Hartmann nicht zurückgetreten, hätte die 
Fraktion sie abgewählt. Der Grund war das zerstörte 
Vertrauensverhältnis. Wir haben uns als Fraktion aber weder in die 
Auseinandersetzung eingemischt, noch haben wir über Schuld oder 
Unschuld abgestimmt. Unser Votum erfolgte allein über die 
Vertrauenswürdigkeit und die Teamfähigkeit von Frau Hartmann. Beides 
war nicht mehr gegeben.
Sie beklagten jüngst in einem Interview das Gesamtbild der SPD 
auch im Bund. Was braucht es, um die Sozialdemokraten wieder aus dem 
30-Prozent-Ghetto zu holen?
Jüttner: Bei aller berechtigter Kritik warne ich vor allzuviel 
Schwarzmalerei: Im Land sind wir zwar bei einem dramatischen Verfall 
der Wahlbeteiligung abgesackt, aber das ist sicherlich kein 
Dauerzustand. Bei der Kommunalwahl vor zwei Jahren hatten wir 38 
Prozent und bei der Bundestagswahl vor drei Jahren über 43 Prozent. 
Wir stellen mehr Oberbürgermeister und Landräte als die CDU. Wir 
wollen auch wieder die für Niedersachsen üblichen SPD-Wahlergebnisse 
erzielen.
Die Aufgabe im Bund ist unter den Bedingungen der großen Koalition 
schwierig, weil man konstruktiv mitarbeiten muss und zugleich sein 
Profil erkennbar schärfen will.
Ich hoffe, dass die Debatte nicht weitergetrieben wird, wonach eine 
große Koalition klasse ist. Diese Aussage von Finanzminister Peer 
Steinbrück hat mir nicht sonderlich gefallen. Da teile ich eher die 
Einschätzung von Wolfgang Schäuble, nach der die große Koalition 
nicht der Normalzustand ist. Wen will ich denn mit dem Ziel 
mobilisieren, die Elefantenehe zu verlängern? Eine solche Idee kann 
nur in der Berliner Käseglocke gedeihen, wo der Abstand zur Basis 
größer ist als im Land.
Das Interview führte
Joachim Zießler

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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