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Landeszeitung Lüneburg: ,,Schmerzhafter Spagat" -- Interview mit dem Russland-Experten Heinrich Schwabecher.

Lüneburg (ots)

Heute findet der jährliche EU-Russland-Gipfel
statt. Die Europäische Union strebt ein neues Partnerschaftsabkommen 
mit dem schwierigen Nachbarn im Osten an. Kommende Woche soll in Genf
über die Zukunft Georgiens entschieden werden, dessen Spaltung die 
Europäer nicht hinnehmen wollen. Muss sich der Westen vor Russland 
wieder fürchten? Heinrich Schwabecher, Russland-Experte der 
Konrad-Adenauer-Stiftung, beruhigt und mahnt zugleich: Russlands 
Streitkräfte steckten in der Krise, aber ein schwaches Russland sei 
für den Westen die größere Gefahr.
Russlands Präsident Medwedew sah in dem Sieg in Georgien den 
Beweis, dass die russischen Streitkräfte "die Krise der neunziger 
Jahre überwunden" hätten. Ist dem so?
Heinrich Schwabecher: Nein, das stimmt nicht. Was nach innen wie nach
außen als großer Sieg verkauft wurde, hat tatsächlich viele interne 
Probleme der russischen Streitkräfte offenbart. Die Armee befindet 
sich in einer tiefen Krise, die in der Amtszeit von Präsident Putin 
nicht überwunden werden konnte.
Im georgischen Fünftagekrieg kämpften auf russischer Seite -- 
anders als in Tschetschenien, wo vor allem Wehrpflichtige eingesetzt 
wurden -- 70 Prozent Zeitsoldaten. Gelingt dem Kreml die 
Professionalisierung der Armee?
Schwabecher: Es war ein zentrales Ziel des Kreml, bis 2008 70 Prozent
der Streitkräfte zur Berufsarmee umzubauen. Allerdings sieht die 
Zwischenbilanz eher ernüchternd aus. Weil die geplante Quote längst 
nicht erreicht wurde, kämpften auch Wehrdienstleistende in Georgien, 
was gesetzlich eigentlich verboten ist. Zudem stieg die 
Kriminalitätsrate gerade unter den Zeit- und Berufssoldaten in den 
vergangenen Monaten um mehr als 50 Prozent. Und lediglich 17 Prozent 
von ihnen wollen ihren Vertrag verlängern. Dies sind keine Indizien 
für eine Hebung des Ansehens der Streitkräfte.
Damit verliert die Armee die bestausgebildetsten Soldaten?
Schwabecher: Es ist sehr umstritten, ob die Zeitsoldaten wirklich so 
gut ausgebildet sind. Nach Angaben des ,,Komitees der 
Soldatenmütter", das seit den neunziger Jahren die Misshandlung von 
Wehrpflichtigen anprangert, werden viele Rekruten gezwungen, einen 
Vertrag als Zeitsoldat zu unterzeichnen. Indirekt wird dies von 
offiziellen Angaben des Verteidigungsministeriums bestätigt, wonach 
40 Prozent der Zeitsoldaten ihren Dienst verweigern -- was bei 
überzeugten Freiwilligen keinen Sinn machen würde.
Setzt Moskau die Einnahmen aus dem Gas-Export ein, um den Sold der
Soldaten anzuheben?
Schwabecher: Nein, weil die Finanzkrise Russland mit noch größerer 
Wucht getroffen hat als die westlichen Staaten. Russlands Reserven 
sind geschmolzen. Laut russischen Medien schlugen im Oktober die 
Verantwortlichen für den Bau der Trägerrakete Sojus Alarm. Wenn sie 
nicht in Wochenfrist Geld aus Moskau bekommen würden, könnten sie die
Raketen, die zur Internationalen Raumstation starten sollen, nicht 
fertigstellen. Wenn sogar strategisch wichtige Projekte 
unterfinanziert sind, dürfte klar sein, wie wenig bei den Soldaten 
ankommt.
Die georgischen T-72-Panzer erwiesen sich den russischen T-72 auf 
Grund ihrer moderneren Ausstattung als überlegen. Sind Russlands 
Waffensysteme veraltet?
Schwabecher: Über die georgischen und russischen Panzer liegen mir 
keine Informationen vor. Dennoch zeigte der Kaukasuskrieg 
Schwachstellen der russischen Streitkräfte. Nach meiner Auffassung 
ist die Transformation der Streitkräfte unter Putin gescheitert. 
Moderne Waffen konnte die Armee nicht einsetzen, die Aufklärung war 
mangelhaft, moderne Kommunikationsmittel fehlten überall -- oft 
telefonierten die Soldaten mit ihren eigenen Handys. Selbst die 
schnelle Mobilisierung von 10000 Soldaten, für die das Militär sich 
feiert, erweist sich bei näherem Hinsehen als Mogelpackung. 
Tatsächlich wurden bereits im Juli für das Manöver "Kaukasus 2008" 
acht- bis zehntausend Soldaten an die georgische Grenze verlegt. Das 
Gros davon marschierte dann im August in Georgien ein. Diese Mängel 
und nicht die Triumphmeldungen der politischen Elite erklären, warum 
Medwedew kurz nach dem Kaukasuskrieg eine umfassende Reform der 
Streitkräfte ankündigte.
Macht diese technologische Rückständigkeit die russischen 
Streitkräfte zu einem Papiertiger?
Schwabecher: Betrachtet man das nukleare Potenzial, heißt die 
Antwort: Nein. Bei jüngsten Manövern im Fernen Osten zeigte sich, 
dass die zum Teil aus den achtziger Jahren stammenden Atomraketen 
noch einsatzfähig sind. Prompt wurde ihre Einsatzzeit um weitere zehn
Jahre verlängert -- auch wenn ihre Sicherheit zumindest fragwürdig 
ist. Die konventionellen Streitkräfte befinden sich dagegen in einem 
katastrophalen Zustand. Direkt nach dem Kaukasuskrieg verkündete 
Präsident Medwedew die umfassenden Militärreformen. Am 26. September 
2008 formulierte er fünf Schwerpunkte des Aufbaus der russischen 
Streitkräfte bis 2020: 1. Bei sämtlichen Streitkräften sollte 
Einsatzbereitschaft hergestellt werden. 2. Erhöhung der Effektivität 
der Führungsebene. 3. Verbesserung der Ausbildung. 4. Verbesserung 
der sozialen Lage von Soldaten und Offizieren. 5. Die Umrüstung und 
Modernisierung aller Waffensysteme. Zumindest vier der Schwerpunkte 
Medwedews haben wir bereits als zentrale Punkte der Militärreformen 
2001-2005 gesehen. Offenbar hat sich in den zurückliegenden drei 
Jahren nichts verbessert. Dies belegt das Scheitern von Putins 
Reform. Im Oktober 2008 stellte Medwedew die zentralen fünf Punkte 
seines Reformplanes vor: 1. Die Zahl der Soldaten sollte von 1,2 
Millionen auf 1 Million reduziert werden. 2. Der Generalstab sollte 
um 20 Prozent schrumpfen von 1100 auf 880 Generäle. 3. Die Zahl der 
Offiziere sollte von 300000 bis 2012 auf 150000 halbiert werden. 4. 
Die Ebene der Unteroffiziere sollte abgeschafft werden. 5. Statt 61 
Militärakademien und Hochschulen sollte es nur noch 10 
Wissenschaftszentren geben. Diese Reformen stoßen auf Widerstand 
innerhalb der Streitkräfte und lösten großen Unmut in der Generalität
aus. Ob diese Reformen erfolgreich durchgesetzt werden können, darf 
aus der Erfahrung der letzten Jahre durchaus angezweifelt werden.
Medwedew kündigte an, den Verteidigungshaushalt um 27 Prozent auf 
50 Milliarden Dollar zu erhöhen. Reicht dies, um die Schlagkraft zu 
erhöhen?
Schwabecher: Nein, bei weitem nicht. Zwar steigt das Militärbudget 
Russlands seit einiger Zeit jährlich um mehrere Prozent. Doch diese 
Tatsache darf man nicht überbewerten. So belief sich der Etat des 
russischen Verteidigungsministeriums 2008 auf rund 36 Milliarden 
US-Dollar. Im selben Zeitraum verfügten die US-Streitkräfte über 
Mittel von 650 Milliarden Dollar. Betrachtet man die geopolitische 
Lage Russlands, sind dies äußerst wenig Mittel. Im Süden liegen 
China, Nordkorea, Afghanistan, Irak und der Iran. Moskau vollführt 
einen schmerzhaften Spagat zwischen der Begrenztheit seiner Mittel 
und den strategischen Erfordernissen. Nähme man nur die geopolitische
Lage Russlands mit dem immensen Konfliktpotenzial in Zentralasien als
Maßstab, müsste das Land ein Militärbudget in US-Dimensionen haben. 
Zwar ist der Anstieg der staatlichen Rüstungsaufträge immens: Während
2001 noch Systeme für 50 Milliarden Rubel geordert wurden, waren es 
2008 solche für 800 Milliarden. Im kommenden Jahr will Moskau 1,3 
Billionen Rubel für Waffen ausgeben. Doch trotz dieser bedrohlich 
wirkenden Ausgabensteigerung misslang Putin die Wende in den 
Streitkräften. Kein Wunder, bei einer Inflationsrate zwischen sieben 
und elf Prozent, erhöhten Transport- und Energiekosten und der 
allgegenwärtigen Korruption.
Vermutlich versickert viel dieser astronomisch wirkenden Summen im
korrupten Militärisch-Industriellen Komplex?
Schwabecher: Genau. Allein zwischen Januar und September 2008 stieg 
die Zahl der Korruptionsdelikte innerhalb der Streitkräfte um 35 
Prozent. Zwischen Januar und Juni 2008 wurden 22 Milliarden Rubel 
verschwendet oder veruntreut. In diesem Zeitraum zählten die 
Ermittler 1000 Korruptionsstraftaten, von denen 720 durch Offiziere 
begangen wurden. Dies ist das Problem Nummer 1. Hier spielen sich, 
vom Wes"ten weitgehend ignoriert, menschliche Tragödien ab: 120000 
Offiziersfamilien haben keine Wohnung. Der Sold ist minimal. Unter 
diesen Bedingungen gedeiht Korruption.
Erweist sich die weitgehende Entmachtung der Duma als Handicap, 
weil damit ein Kontrollinstrument entfällt?
Schwabecher: Über die Frage, ob eine zivile Kontrolle des Militärs 
existiert, sind die Experten unterschiedlicher Ansicht. Russen 
bejahen eine solche Kontrolle, weil die Duma über die Militärausgaben
entscheidet. Allerdings dürfen die Abgeordneten nur über die 
Endsummen abstimmen. Die Verwendung des Geldes, also etwa die 
Aufteilung auf Unterhalt, Modernisierung oder Neuanschaffungen liegt 
außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten.
Zeigt die Neuauflage des Raketenschachs mit den USA, dass Moskau 
nach wie vor im Westen den Hauptgegner sieht?
Schwabecher: Zumindest die Elite sieht in den USA und der NATO 
eindeutig den Kontrahenten Nummer 1. Aber hinsichtlich Medwedews 
Antwort auf den US-Raketenschutzschild empfehle ich Gelassenheit. 
Zunächst mal war das nur ein Vorschlag. Sollte Barack Obama von der 
Stationierung der Raketen in Polen und Tschechien abrücken, werden 
die Russen höchstwahrscheinlich auch keine Raketen im Kaliningrader 
Gebiet aufstellen. Wirklich überraschen konnte der Vorstoß ohnehin 
nicht, hatte doch der damalige Verteidigungsminister Iwanow schon vor
einem Jahr eine asymmetrische, billige Antwort auf die 
US-Herausforderung angekündigt. Und was ist billiger und effektiver, 
als die alten Raketen westlicher zu stationieren?
Kann es sich Moskau erlauben, gegenüber der NATO mit starker 
Symbolpolitik aufzutrumpfen, aber den erstarkenden Rivalen China zu 
ignorieren?
Schwabecher: Das ist eine sehr gute Frage. Hier fehlt mir das 
Verständnis, vor allem angesichts des demographischen Problems. Das 
russische Volk schrumpft. Heute leben in Russland rund 142 Millionen 
Menschen, 75 Prozent davon im europäischen Teil. 2050 wird es nach 
optimistischen Schätzungen lediglich noch 100 Millionen Russen geben.
Das heißt, in Sibirien und dem Fernen Osten stünden nur noch 25 
Millionen Russen hunderte Millionen Chinesen gegenüber, deren 
Interesse an Russlands Ressourcen wächst. Die Einschätzung im Kreml 
ist grotesk: China wird als strategischer Partner betrachtet, obwohl 
die westliche Grenze, wo die NATO steht, die sicherste Grenze 
Russlands ist. Der Westen darf aber nicht übersehen, dass auch er 
unter Russlands Problemen leiden wird. Ein schwaches Russland kann 
dem Vordringen des islamistischen Fundamentalismus aus dem Süden 
nichts entgegensetzen. Unser Interesse muss also darin liegen, dass 
Russland ein starker, demokratischer Staat wird.
Das Interview führte Joachim Zießler

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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