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Landeszeitung Lüneburg

Landeszeitung Lüneburg: Landeszeitung Lüneburg: ,,Förderpädagogik ist des Teufels" Interview mit dem Kinderpsychologen Wolfgang Bergmann.

Lüneburg (ots)

Die Mehrzahl der Abiturienten ist weiblich. Ist
dieser Trend Vorbote für ein Matriarchat?
Bergmann: Nein, überhaupt nicht. Denn die führenden Positionen 
werden nach wie vor von Männern besetzt, und zwar auch von ganz 
jungen Männern. Das heißt, die vorbildlichen Noten der 
Abiturientinnen bedeuten nur, dass sie sich an die schulischen 
Ordnungen und Normen angepasst haben. Die wiederum passen aber nur 
sehr bedingt zur wirtschaftlichen Realität einer globalisierten 
Kultur. Das spielt zunehmend auch in den Einstellungen zumindest in 
den gehobeneren Positionen bei den Personalberatern eine 
entscheidende Rolle. Die Jungen spielen lieber Computer, als für die 
Schule zu lernen. Und das ist für ihren Beruf auch erheblich 
wichtiger.
Heißt das, dass sich in den vergangenen 50 Jahren nichts geändert 
hat?
Bergmann: Ein bisschen hat sich schon geändert. So in der 
Angleichung des sozialen Ansehens der Geschlechter. Aber Jungen sind 
Jungen, Mädchen sind Mädchen, ihre Unterschiedlichkeit zu leugnen, 
macht überhaupt keinen Sinn. Eine völlig andere Frage ist, ob unsere 
Kultur weiblichen Eigenschaften und Tugenden entgegenwächst. Davon 
kann aber, analytisch betrachtet, nicht die Rede sein. Es gibt in der
ganzen Entwicklung der digitalen, der globalisierten Kultur nicht 
einen einzigen großen weiblichen Namen -- es sind alles Männer.
Der allgemeine Leistungsabfall bei Jungen wird von Experten häufig
damit in Zusammenhang gebracht, dass die Lehrerschaft überwiegend 
weiblich ist. Brauchen wir eine Männerquote für Schulen?
Bergmann: Das kann man nicht herbei dirigieren. Es wäre natürlich 
viel besser, wenn es mehr Männer schon in den Kindergärten gäbe, erst
recht in den Grundschulen. In Kitas kann man beobachten, wenn z.B. 
ein Zivildienstleistender hereinkommt, dass die kleinen Jungen wie 
eine Traube an ihm hängen. Die Weiblichkeit der Kindergärten und der 
Grundschulen führt dazu, dass eine Sehnsucht nach dem Väterlichen, 
dem Männlichen ausgelöst wird, nach jemandem der sagt: ,So ist das, 
jetzt wider-sprich' mir nicht.' Das können Frauen nicht oder genauer:
Sie können es anders, aber vor allem den Jungen fehlt dann das 
Männliche, das Väterliche in der Vermittlung von Normen und Regeln. 
Und so stehen Erzieherinnen oder Lehrerinnen zeitweise völlig hilflos
vor einem dissozialen Chaos. Dann lesen sie schlechte Literatur -- 
beispielsweise, dass die Kinder Tyrannen sind. Dieser Tatbestand ist 
aber auch ein Zeichen dafür, dass uns Kinder nichts wert sind. In 
Finnland oder Schweden haben wir das Problem nicht. Denn dort sind 
Berufe, in denen man sich mit kleinen Kinder befasst, hoch angesehen.
Auch in skandinavischen Ländern, den PISA-Siegern, ist die 
Lehrerschaft überwiegend weiblich. Woran kann es liegen, dass Jungen 
dort nicht aus dem Rahmen fallen?
Bergmann: In Finnland schon, auch in Dänemark gibt es mehr 
männliche Lehrer. Es kommt auch nicht so sehr auf das Biotische an. 
Wenn eine Frau vor 20 Neunjährigen anfängt, sich durchzusetzen, dann 
wird ihre Stimme immer höher und kreischender, und die Kleinen denken
schließlich, die hat mir gar nichts zu sagen. Wenn aber ein Mann vor 
der Klasse steht und mit kräftiger Stimme Ruhe fordert -- vor allem 
die hyperaktiven Jungen sind da sehr beeindruckbar -- sind alle 
still.
Aggressives Verhalten, skrupellose Prügeleien und Koma-Saufen 
machen immer häufiger Schlagzeilen, prägen den Zeitgeist der Jugend. 
Woran liegt das?
Bergmann: Ganz so dras"tisch ist es nicht. Das Problem 
Aggressivität ist, dass es eine ungekonnte Aggressivität ist. Wir 
haben uns früher auch gewaltig geprügelt. Wir lernten dabei aber, 
weil wir nicht ständig beaufsichtigt wurden, automatisch 
Körperlichkeit und Rücksichtnahme. Die modernen Kinder haben das 
nicht mehr, stehen ständig unter Kontrolle und Anspannung. Damit 
kommen die seelisch verletzbaren kleinen Jungen noch weniger zurecht 
als die Mädchen. Beim Koma-Saufen zeigt sich die Unfähigkeit unserer 
Gesellschaft, soziale kommunikative Eigenschaften zu entwickeln. Wir 
sind eine Ego-Gesellschaft. Das prägt sich in unseren Kindern aus. 
Früher wurde auch getrunken. Aber wir tranken kommunikativ, im Laufe 
der Gespräche auf einer Party. Koma-Saufen ist etwas anderes: Man 
nimmt die Flasche Hochprozentiges und schüttet sich zu, weil man sich
vorher kaum in der Lage sieht, Spaß zu haben und mit anderen zusammen
zu sein. Es gibt einen tiefen Kommunikationsverlust. Und solange wir 
auf den Prophylaxe-Tagungen nur darüber nachdenken, wie man das 
kontrollieren kann, können wir die ganzen Treffen vergessen und das 
Geld lieber in Heime für Obdachlose stecken.
Kinder aus sozial schwachen Familien sind häufig auf sich allein 
gestellt. Wie sollen die es lernen?
Bergmann: Das sind circa 15 Prozent -- auf diese Klientel zielen 
im Wesentlichen die Boulevardmedien ab. 75 Prozent aller Kinder 
wachsen in Familien mit Vater auf Mutter auf, was vielen Pädagogen 
unbekannt ist. Wohl haben sich die Familien geändert, von der Groß- 
zur Kleinfamilie, doch das ist ein anderes Thema. Aber Kontrolle ist 
heutzutage sehr viel unmittelbarer, dichter und undurchdringlicher 
und zwar von Kindheit an. Schon die Zweieinhalbjährigen werden in 
Förderkurse gespannt. Wenn die in einem dieser Exklusiv- oder 
Exzellenz-Pädagogik-Kindergärten wie ,,Kids auf der Überholspur" oder
,,Little Giants" eine Blume sehen, sich freuen und sich mit dem 
Charakter dieser Blume verbinden wollen, kommt die Erzieherin und 
sagt: ,,This is a flower". Und in dem Moment ist das Intuitive, das 
Körperliche, das spontane Empfinden für den Gegenstand verloren 
gegangen. Diese ganze Förderpädagogik ist des Teufels, das sagt uns 
auch die Gehirnphysiologie. Die Kinder sind permanent unter dem 
Druck: Ich muss ein tolles und erfolgreiches Kind sein. Sie lernen zu
rivalisieren, bevor sie soziale Eigenschaften und das freie frohe 
Spiel miteinander gelernt haben. Das geht in der Grundschule weiter.
Wir leben in einer medialen Welt. Ist das ein Fluch oder ein Segen
für die Entwicklung von Kindern?
Bergmann: Zunächst einmal ist das eine kulturelle Entwicklung. 
Dagegen kann man gar nichts machen. Da können sich Leute wie jetzt 
die Innenminister moralisch empören bis sie schwarz sind, das 
interessiert absolut niemanden. Mit dieser moralisierenden Haltung 
kommen wir nicht weiter. Die Kinder wachsen in eine digitalisierte 
Informations- und Bildkultur hinein. Vor allem die Jungen, die sich 
mit dieser Technokratie und diesen hoch eindrucksvollen ästhetischen 
Bildern unendlich gut auskennen, gerade die Hyperaktiven, die 
Schwierigen. Die brauchen Sie nur vor einen Computer zu setzen, 
plötzlich können die alles, was sie sonst nicht können: still sitzen,
sich konzentrieren, planmäßig vorgehen. Das einzige, was sie nicht 
können, ist aufhören. Die Diskussion verrennt sich in meist sinnlose 
quantitativ statistische Erhebungen wer spielt wie lange -- oder in 
eine pädagogische moralisierende Gebärde. Mit beiden kommen wir nicht
weiter.
Was kann Schule da leisten?
Bergmann: Schule kann da wenig leisten. Wer hört denn einer 
Lehrerin zu, wenn sie etwas über ein Computerspiel erzählt? Oder wenn
Herr Pfeiffer (Prof. für Kriminologie u. Jugendstrafrecht, Red.) 
wieder mal für ein Verbot plädiert. Der Mann hat noch nie in seinem 
Leben begeistert gespielt. Der weiß gar nicht, wo die Faszination 
steckt in ,,World of Warcraft", wenn sich der Spieler verliert in 
kaltem Lichtgelände, das muss man spüren. Wenn wir die Sache ernst 
nehmen, dann müssen wir uns verbünden mit den narziss"tischen 
Energien, mit den Faszinationen der Kinder. Computerspielen ist 
einsam. Daher muss man versuchen, ein Stück der sozialen Kultur der 
Kommunikation, der Bindungsfähigkeit, die auch den modernen Kindern 
eigen ist, herzustellen, um sie dort wieder hineinzulo"cken. Nie gab 
es eine Kinder- und Jugendgeneration, die so sehr auf Erwachsene 
hört, wenn sie diese Erwachsenen respektiert. Aber sehr viele 
Erwachsene, vor allem Lehrer, Päda"gogen, Therapeuten entziehen sich 
selber sozusagen der Aufmerksamkeit der Kinder. Ein starker Mensch 
ist nie einer, der moralisierend ist.
Chatten, Simsen, Dauertelefonieren erwecken den Eindruck, dass die
Jugend in einer Welt voller Freunde lebt. Dennoch ist Studien zufolge
die Sehnsucht nach Geborgenheit groß. Wie passt das zusammen?
Bergmann: Der Widerspruch, den ich eben skizziert habe, ist auch 
in den Jugendlichen selber drin. Sie stehen permanent in Verbindung 
mit einem anderen, aber nur so lange, wie er gerade interessiert. Ein
Klick, und dann ist er weg. Der mir gegenüber sitzt, verliert an 
Bedeutung, denn bei dem kann ich nicht Klick machen. Gleichzeitig 
aber sind diese modernen Kinder auch Kinder mit Sehnsüchten nach 
Mama, Liebe, Geborgenheit. Und je kälter diese Gesellschaft wird, 
desto größer wird die Bedürftigkeit der 14- bis 17-Jährigen nach 
Geborgenheit. Und diese müssen Erwachsene stiften. Das ist die große 
Kunst.
Wären Ganztagsschulen eine Lösung?
Bergmann: Diese wären dann eine Lösung, wenn wir einen anderen 
Typus von Lehrern hätten. Solche, die nicht moralisieren, sondern die
cool sind, großzügig, gelassen. Solche, die auch mal weggucken, wenn 
Jungen sich in ihre hie"rar"chischen Kämpfe verstri"cken. 
Ganztagsschulen sind eine Hilfslösung, die interessanter wäre, wenn 
wir Leute an die Schulen holten wie Künstler, Bildhauer, aber auch 
Tischler und andere Handwerker. Am besten solche, die nichts von 
Pädagogik verstehen, die aber mit großem Enthusiasmus und beruflichen
Erfahrungen auf die Jugendlichen zugehen. Dann sind die Schüler 
plötzlich ganz geordnet, begeistert. Dafür gibt es ganz viele 
Beispiele.
Das geht in Richtung Waldorf-Pädagogik?
Bergmann: Die Waldorf-Pädagogik ist ein Schritt in die richtige 
Richtung, auch die Montessori-Pädagogik und die Reformpädagogik 
insgesamt -- inzwischen 100 Jahre alt -- ist gegenüber den 
Regelschulen ganz eindeutig sehr viel moderner und fortschrittlicher.
Es gibt bedeutende Leute wie Enja Riegel, die eine Modellschule nach 
der anderen eröffnet hat, die in den PISA-Tests auch optimal 
abschneiden. Die Frage ist, wa"rum die Kultusbürokratie das nicht 
nachmacht. Und: Warum lassen sich Lehrer das gefallen, warum machen 
sie das mit?
Also müssten die Studiengänge überarbeitet werden?
Bergmann: Die Ausbildung muss sich ändern, das Untertan-Verhalten 
vieler Lehrer muss aufhören, das Hochnormativ-moralische muss sich 
ändern, das ewig gekränkte Beleidigtsein muss aufhören. Und dann 
brauchen die Kinder, vor allem die Jungen, starke Erwachsene.
Die Politik macht sich stark für mehr Krippen- und Kita-Plätze, damit
mehr Mütter arbeiten gehen können. Ist das der richtige Weg? 
Bergmann: Das ist mit Sicherheit ein absolut irrwitziger Weg. Davor 
warnt sogar die konservative Gesellschaft für Kinder- und 
Jugendpsychiatrie. Und an die Adresse der Bundesfamilienministerin 
gerichtet, mache ich darauf aufmerksam, dass die Zahl der 
hyperaktiven Kinder in den nächsten sieben Jahren dramatisch steigen 
wird. Die Krippen-Diskussion ist rein technokratisch und 
propagandistisch gelaufen. Frau von der Leyen sagt nicht einen 
einzigen Satz zur Bedürftigkeit von Kindern. Es geht nur um die 
Bedürftigkeit der Wirtschaft. Das heißt, die Kälte, die insgesamt 
unsere Kinder verstört, wird in dieser Diskussion noch einmal 
deutlich sichtbar. Da trägt die Familienministerin auch als Person 
eine moralische Verantwortung.
Das Interview führte Dietlinde Terjung

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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