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Landeszeitung Lüneburg: "Es ist bequem, einseitig zu sein" -- Nahost-Experte Henning Niederhoff über die Rolle Deutschlands im Konflikt um das Heilige Land

Lüneburg (ots)

"Wer im Heiligen Land nicht an Wunder glaubt, ist
kein Realist" -- diesen Satz des früheren israelischen 
Premiermi"nis"ters Ben Gurion zitiert auch der Nahost-Experte Henning
Niederhoff regelmäßig, wenn er über den Konflikt zwischen Israelis 
und Palästinensern spricht und schreibt. Weil dieser Konflikt kaum 
lösbar ist, wie Niederhoff meint, müsse man sich bemühen, "den Status
quo lebbar" zu machen. Er rät auf beiden Seiten zur Realpolitik.
Vordergründig geht es zwischen Israelis und Palästinensern um 
Land. Aber was ist der eigentliche Kern des Nahost-Konflikts?
Henning Niederhoff: Ja, es geht in erster Linie um Land, aber es 
gibt eine tiefere Ebene. Der Streit um dieses Land hat einen 
religiösen, historischen und politischen Hintergrund. Und zwar auf 
beiden Seiten. Für die muslimische Welt ist dies Heiliges Land. Und 
für die Juden ist es auch Heiliges Land. Beide Seiten haben eine 
tiefe emotionale Bindung an dieses Land. Das Problem ist aber, dass 
sie die Bindung der anderen Seite negieren oder nicht sehen wollen. 
Wenn zwei denselben Acker beanspruchen, haben sie ein Problem.
Üblicherweise kommt es dann zu einem Vergleich und man teilt sich 
den Acker...
Niederhoff: Beide Positionen stehen kompromisslos nebeneinander.
Es gibt also keine Lösung?
Niederhoff: Ich fürchte ja, denn man muss die Spannungen sowohl 
innerhalb der israelischen als auch in der palästinensischen 
Gesellschaft sehen. Im Gazastreifen gibt es ja bereits einen 
Bürgerkrieg unter den Palästinensern. Und auch zwischen Israelis 
können gewalttätige Auseinandersetzungen nicht ausgeschlossen werden.
Der frühere israelische Premier Jitzchak Rabin ist nicht von einem 
Palästinenser erschossen worden, sondern von einem Israeli -- weil 
Rabin bereit war, das Heilige Land zu teilen, den Palästinensern 
etwas abzugeben. In Israel gibt es viele grundsätzliche Dinge zu 
klären, wie die Frage, welche Teile des biblischen Landes innerhalb 
der künftigen Grenzen des heutigen Staates Israel liegen sollen und 
zu welchem Preis dies erreichbar ist.
Aber Israelis und Palästinenser glauben an eine Lösung, sie 
kämpfen dafür...
Niederhoff: Viele Palästinenser träumen immer noch davon, dass die
Juden wieder gehen. Die Kreuzfahrer sind 250 Jahre da gewesen, den 
israelischen Staat gibt erst seit 60 Jahren. Deshalb haben 
Palästinenser die Hoffnung, dass auch die Juden wieder gehen werden. 
Viele Israelis träumen dagegen davon, dass die Palästinenser gehen --
bis jenseits des Jordangrabens, also außerhalb des Gebietes, um das 
es in diesem Konflikt geht. Aber keiner wird gehen. Die Menschen dort
denken in Generationen und haben deshalb alle einen langen Atem. Sie 
denken völkisch -- so wie wir nicht mehr denken wollen.
Das Schlimme ist, dass sich Israelis und Palästinenser seit der 
zweiten Intifada, also seit dem Jahr 2000, nicht mehr begegnen und 
sehen. Palästinenser der Westbank und des Gaza-Streifens können nicht
mehr nach Jerusalem und nach Israel reisen und Israelis nicht in die 
Westbank und den Gaza-Streifen. Es gibt in Israel eine neue Autobahn 
parallel zur Grünen Linie, der Waffenstillstandslinie von 1948. 
Unmittelbar neben dieser Autobahn steht die Mauer. Auf ihrer anderen 
Seite liegt die palästinensische Stadt Kalkilia. Wenn man auf der 
Autobahn fährt, kann man die Funktion der Trennmauer leicht 
übersehen, denn hier sieht sie aus wie eine normale 
Schallschutzmauer, hübsch gemacht, halb verborgen durch 
aufgeschüttete Erde und mit Rosen bepflanzt. Weil die Israelis das 
Leid, das in der Westbank und im Gaza-Streifen herrscht und für das 
sie mitverantwortlich sind, nicht mehr sehen wollen oder können, 
blenden viele es aus. Während Israelis sich immer mehr nach Europa 
und Amerika ausrichten, verbauen diese Mauern und Zäune den 
Palästinensern diese Blickrichtung, im tatsächlichen, wie im 
übertragenen Sinne, sowohl nach Israel, als auch in die westliche 
Welt. Und deshalb schauen sie immer häufiger in Richtung Osten. Und 
dort liegt der große Block der muslimischen Länder, die nicht Vorbild
sind für Demokratie, Liberalismus, Rechtstaatlichkeit und 
Menschenrechte. Mauern in der Landschaft mutieren zu Mauern in den 
Köpfen. Eine gefährliche Entwicklung für alle.
Sehen Sie einen Nachfolger für den gegenwärtigen Präsidenten der 
palästinensischen Autonomie, Mahmud Abbas, der die Palästinenser 
einen und eine Annäherung an Israel erreichen könnte?
Niederhoff: Es ist jemand erkennbar, nämlich der Fatah-Führer 
Marwan Barghuthi. Allerdings sitzt er in Israel im Gefängnis, weil er
als Haupträdelsführer der zweiten Intifada, des zweiten 
palästinensischen Aufstands gegen die israelische Besatzung, gesehen 
wird. Aber dann müsste die israelische Regierung über ihren Schatten 
springen, denn für sie ist Barghuthi kein Freiheitskämpfer, sondern 
Terrorist.
Welche Rolle kann Deutschland mit seiner geschichtlichen Last 
überhaupt im Nahost-Konflikt spielen?
Niederhoff: Wir Deutschen sind als Ratgeber wenig geeignet. Es ist
bequem, einseitig zu sein. Einseitig pro Israel oder einseitig pro 
Palästina. Aber in diesem Fall dürfen wir es nicht sein. Manchmal ist
es hilfreich, von einem Freund zu einem Perspektivwechsel veranlasst 
zu werden. Bloß dann muss der Freund tatsächlich ein voll 
akzeptierter Freund sein. Aber sind wir für Israelis tatsächlich der 
Freund, von dem man auch unangenehme Wahrheiten erträgt? Ich habe da 
meine Zweifel. Unsere Vergangenheit wiegt für viele Israelis, 
ausgesprochen oder unausgesprochen, weiterhin schwer. Und 
dementsprechend sagen die Palästinenser: Ihr könnt kein ehrlicher 
Makler sein, weil ihr ein schlechtes Gewissen den Juden gegenüber 
habt. Gleichwohl ist der deutsche Geheimdienst beim 
Gefangenenaustausch ein von allen Seiten -- von Israel, Hamas und 
Ägypten -- akzeptierter Vermittler.
Eine wichtige Rolle müsste eigentlich Europa spielen. Es gibt Anlass 
zur Hoffnung, dass es in Zukunft eine stringente europäische 
Außenpolitik geben wird. Aber man sollte sich nicht täuschen: Auch 
heute spricht die deutsche Politik alle kontroversen Themen gegenüber
der israelischen Regierung offen an. Aber mehr hinter verschlossenen 
Türen und weniger öffentlich. Dies halte ich für klug, obwohl in der 
deutschen Öffentlichkeit von unserer Regierung nicht selten 
öffentliche Kritik Israel gegenüber gefordert wird. Wir in 
Deutschland sollten meines Erachtens genau abwägen, wie wir was zu 
diesen Themen in der Öffentlichkeit sagen. Gut gemeinte Ratschläge in
der Öffentlichkeit ausgesprochen, bewirken erfahrungsgemäß oft das 
Gegenteil.
Stellen Sie sich mal vor, da käme ein Politiker aus Tel Aviv oder 
Ramallah und würde uns in aller Öffentlichkeit die Prob"leme 
vorhalten, die es in Neukölln zwischen Deutschen und Türken gibt. 
Wenn er uns sagen würde, was wir alles falsch machen und öffentlich 
gute Ratschläge erteilen würde, würden wir ein solches Verhalten als 
unter Freunden angemessen halten? Wäre das respektvoll?
Was würden Sie vor diesem Hintergrund Guido Westerwelle mit auf 
den Weg geben?
Niederhoff: Dass man versuchen sollte, beiden Seiten den deutschen
Begriff "Realpolitik" zu erläutern. Man kann ja träumen, aber man 
muss die Fakten nehmen, wie sie sind. Nicht alles ist lösbar. Wir 
müssen deshalb dafür sorgen, dass der Status quo lebbar ist. Israelis
und Palästinenser haben Ver"lus"te erlitten. Realpolitik heißt in 
diesem Fall: Grenze ziehen, Verträge schließen und die Tatsachen 
anerkennen: Dass jedes der beiden Völker sich für die Zukunft nur auf
einem Teil ihres Landes einrichten kann, wenn sie denn Frieden 
wollen. So wie es Willy Brandt mit den deutschen Ostgebieten getan 
hat. Dann kann man als Ostpreuße trotzdem sagen, im neuen Europa ohne
Grenzen kann ich vielleicht wieder dorthin. Als Europäer. Unter 
polnischer Oberhoheit. Grenzen muss man in Europa nicht mehr 
verändern, weil die Grenzen weitgehend verschwunden sind.
Was Deutschland im Nahen Osten tut, ist richtig. Wir pflegen enge 
Beziehungen zu Israel. Wir unterstützen die Palästinenser 
wirtschaftlich, die Deutsche Gesellschaft für Technische 
Zusammenarbeit (GTZ) baut dort Kläranlagen und Straßen, die 
Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt die juristische Fakultät der 
palästinensischen Universität Birzeit. Wir helfen, dass eine 
funktionierende Zivilgesellschaft entsteht. Aber von draußen über den
Konflikt im Detail reden und beiden Seiten gerecht werden, das können
nur wenige.
Wer wäre das?
Niederhoff: Ich kenne nur wenige Politiker, die beide Seiten 
verstehen. Jeder hat seine eigene persönliche und biographische 
Annäherung an diese Region und ihre Menschen.
Ist die geheimdienstliche Vermittlung Deutschlands beim Austausch 
von Gefangenen auch ein Stück Realpolitik?
Niederhoff: Nein, hier passt dieser Begriff nicht ganz. Dahinter 
steckt der Anspruch der Israelis, jeden ihrer Soldaten, der in 
Gefangenschaft ist oder im Feindesland sein Leben gelassen hat, nach 
Hause zu bringen. Und dafür sind sie bereit, fast jeden Preis zu 
zahlen. Der zurzeit diskutierte Austausch von Gefangenen ist 
darüberhi"naus der mögliche Beginn, mit deutscher Vermittlung die 
Sprachlosigkeit der israelischen Regierung gegenüber der Hamas, die 
es seit Jahren -- politisch gewollt -- gibt, zu überwinden.
Sie raten also dazu, die Hamas zu integrieren statt zu isolieren?
Niederhoff: Das ist dieselbe Frage, die sich auch in Afghanis"tan 
stellt: Reden wir mit dem Feind oder reden wir nicht?
Bisher wird nicht geredet -- jedenfalls nicht öffentlich.
Niederhoff: So ist es. Ich tue mich schwer mit einem Rat. Ich kann
nur auf die Erfahrungen mit dem Ostblock verweisen: Mit den 
Kommunisten zu reden, mit Ost-Berlin und mit Moskau, hat 
Veränderungen ausgelöst. Das ist erst einmal natürlich eine 
politische Aufwertung. Aber wenn ich gar nichts tue, komme ich nicht 
weiter. Dann braucht man wieder einen Dritten, der vermittelt.
Zum Beispiel US-Präsident Obama, der eine umfassende 
Friedenslösung angekündigt hat?
Niederhoff: Obamas Rede in Kairo hat große Hoffnungen geweckt, 
besonders in der muslimischen Welt. Aber jetzt merkt man, dass er 
sich in der Kleinteiligkeit der israelischen Politik verheddert. 
Washington wendet sich im Moment auch dagegen, dass Israelis im 
besetzten Ost-Jerusalem für sich neue Häuser bauen. Das haben die 
Vorgängerregierungen in Washington eher schweigend hingenommen. 
Zugleich wird über einen Stopp der fortschreitenden Besiedlung der 
Westbank durch Israel gesprochen. Jetzt hat Obama so viele 
Baustellen, dass er seine Forderungen zurückschrauben muss. Und damit
hat er einen wesentlichen Prestigeverlust erlitten. Wenn ein 
amerikanischer Präsident zeigt, dass seine zentralen Positionen 
verhandelbar sind, dann ist er schwach geworden.
Die zweiten deutsch-israelischen Regierungskonsultationen finden 
in diesem Monat in Berlin statt und der israelische Präsident Schimon
Peres wird im Rahmen seiner Deutschland-Visite am Holocaust-Gedenktag
am 27. Januar im Deutschen Bundestag sprechen. Was sagt das über das 
deutsch-israelische Verhältnis aus?
Niederhoff: Beide Ereignisse sind schon etwas Besonderes. Die 
bilateralen Regierungskonsultationen zeigen die Normalität der 
deutsch-israelischen Beziehungen. Die gemeinsame Kabinettssitzung ist
die Gegenwart, das politische Geschäft zwischen Kollegen auf gleicher
Augenhöhe.
Die Rede von Präsident Peres am Holocaust-Gedenktag vor dem Deutschen
Bundestag zeigt dagegen die Nichtnormalität des deutsch-jüdischen 
Verhältnisses. Der israelische Präsident verkörpert am 
Holocaust-Gedenktag 2010 in Berlin den Staat Israel und das Leben und
Überleben des jüdischen Volkes. Er verkörpert gleichzeitig aber auch 
die Vergangenheit, das Leid und den Tod unzähliger jüdischer Menschen
und damit auch die Verstrickung Deutschlands im Holocaust.
Das Gespräch führte
Klaus Bohlmann

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
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