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Landeszeitung Lüneburg: ,,Bundesregierung trottet halbherzig hinterher" -- Der Grünen-Bundesvorsitzende Cem Özdemir übt Kritik an schwarz-gelben Plänen in Afghanistan und der Steuerpolitik

Lüneburg (ots)

30 Jahre alt, 16 Prozent Zustimmung in der
jüngsten Umfrage: Die Grünen haben allen Grund zum Feiern. Doch Cem 
Özdemir tritt auf die Bremse. Dass sich die SPD mit der 
Oppositionsrolle nach wie vor schwer tut, ,,bedeutet für uns ein 
immenses Maß an Verantwortung", sagte der Bundesvorsitzende der 
Grünen im Gespräch mit unserer Zeitung. Er prangert zudem die 
,,Schwarz-gelbe Klientelpolitik" an und fordert einen deutlicheren 
Kurswechsel in Afghanistan.
Die Grünen haben gerade ihren 30. Geburtstag gefeiert. Was war für
Sie der wichtigste Grund zum Feiern?
Cem Özdemir: Die vergangenen 30 Jahre waren für uns alles in allem
sehr erfolgreich. Wir haben das Gesicht dieser Republik verändert. 
Wir haben die Ökologie ins Zentrum der deutschen Politik gestellt, 
haben in Themenfeldern wie Bürgerrechtspolitik oder Frauenpolitik die
anderen Parteien maßgeblich beeinflusst. Jetzt gilt es für uns, die 
vielen Menschen, die grün handeln und grün ti"cken, davon zu 
überzeugen, beim nächsten Mal auch grün zu wählen. Ich glaube, dass 
die 10,7 Prozent, die wir bei der Bundestagswahl 2009 hatten, nicht 
das Ende der Fahnenstange sind. Das zeigen die jüngsten Umfragewerte,
in denen wir gerade bei 16 Prozent landen.
Die Streit um Steuersenkungen lässt die FDP in Umfragen absacken, 
die Linkspartei ist zerstritten -- sind auch das Gründe für Sie, zu 
feiern?
Özdemir: Sie haben die SPD vergessen, die sich schwer damit tut, 
die Oppositionsrolle anzunehmen. Das ist kein Grund zum Feiern, 
sondern bedeutet für uns ein immenses Maß an Verantwortung. 
Schwarz-Gelb betreibt einen knallharten Klientelismus zu Gunsten 
weniger und zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit mit katastrophalen 
Konsequenzen für unser Land. Was heißt das für 2013? Wenn wir an der 
nächsten Regierung beteiligt sein sollten, werden wir ein Land 
übernehmen müssen mit abgewirtschafteten Finanzen, einem riesigen 
Schuldenberg, mit Versäumnissen unter anderem in den Bereichen 
Klimaschutz und Bildungspolitik. Ab 2013 wird es also sehr hart.
Resultiert die derzeitige Stärke der Grünen aus der Schwäche der 
FDP und der Linkspartei?
Özdemir: Es ist eine Mischung. Ich glaube, dass die Leute 
angewidert sind von der Politik, die sie in Berlin sehen. Union und 
FDP bemühen sich nicht einmal zu verstecken, dass sie eine knallharte
Klientelpolitik betreiben. Ein Beispiel sind die Spenden aus der 
Hotelbranche an FDP und CSU. Selten gab es einen so klaren 
Zusammenhang zwischen politischen Entscheidungen und Spendenzufuhr. 
Das erinnert stark an die Zeit der Flick-Affäre.
Ist die Nähe zwischen Politik und Wirtschaft generell zu groß?
Özdemir: Nähe ist per se nicht unanständig. Politik muss sich mit 
der Wirtschaft auseinandersetzen. Aber es darf eben nicht so sein, 
dass man Klientelismus für einzelne Branchen betreibt. Welche 
Konsequenzen sollten denn aus den Parteispen"den"affären gezogen 
werden? Özdemir: Das entsprechende Gesetz muss dringend nachgebessert
werden. Wir brauchen eine Höchstgrenze für Parteispenden. Wir Grüne 
wollen eine Obergrenze für Spenden von 100000 Euro und Spenden 
sollten schon ab 25000 Euro unverzüglich beim Bundestagspräsidenten 
angezeigt werden. Das werden wir auch im Bundestag einbringen.
Sie haben kürzlich gesagt, dass Sie eine Fusion von SPD und 
Linkspartei erwarten. Würde das die Grünen eher stärken oder 
schwächen?
Özdemir: Das betrifft uns nur peripher, es ist primär ein Problem 
der SPD. Und die Linkspartei steht jetzt vor der Entscheidung, ob sie
Richtung realitätsferner Fundamentalopposition mit 
Wünsch-Dir-Was-Politik segelt oder einen klaren Kurs in Richtung 
einer verantwortungsvollen und realitätstauglichen Politik aufnimmt.
Führt der anhaltende Niedergang der Volksparteien zwangsläufig zu 
Jamaika-Bündnissen im Bund? Özdemir: Wir haben unseren Kurs in diesem
Fünf-Parteien-System klar als selbstbewusste Eigenständigkeit 
definiert, ausgehend von unseren Werten und Inhalten. In vielen 
Fragen haben wir da eine höhere Affinität zur SPD. Allerdings haben 
wir -- wie etwa in Hamburg -- gute Erfahrungen mit der CDU gemacht. 
Daraus folgt aber nicht, dass dies das Modell der Zukunft ist. 
Vielmehr schauen wir uns auf Ländereebene jeweils die konkrete 
Situation vor Ort an, mit wem dort grüne Politik am besten umgesetzt 
werden kann. Ansonsten gehen wir lieber erhobenen Hauptes in die 
Opposition, da bricht uns kein Zacken aus der Krone.
Ist die von Roland Koch angezettelte Debatte über 
Hartz-IV-Empfänger nur ein Vorgeschmack auf tiefe Einschnitte, die 
die Bundesregierung nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen verkünden 
dürfte?
Özdemir: Ich glaube, da werden harte Einschnitte vor allem bei den
Sozialleistungen vorbereitet. Das Geld für die Steuergeschenke muss 
ja irgendwo herkommen. Aus taktischen Gründen ist es zwar 
nachvollziehbar, dass man dies erst nach der Wahl in 
Nordrhein-Westfalen verkünden will, aber es stärkt nicht gerade die 
Glaubwürdigkeit dieser Regierung. Herr Koch und Herr Rüttgers haben 
sich die Rollen aufgeteilt -- Rüttgers spielt den Arbeiterführer, 
Koch den sozialpolitischen Rammbock. Beides ist aber Teil derselben 
Inszenierung. Wenn Herrn Rüttgers soviel an Arbeitnehmern liegt, 
müsste er schon die Frage beantworten, warum er gegen Mindestlöhne 
ist. Und er müsste begründen, warum er dem sogenannten 
Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das nichts anderes ist als ein 
Lobby-Bedienungs- und Steuervermehrungsgesetz, zugestimmt hat, bei 
dem die Kinder von Hartz IV-Empfängern leer ausgegangen sind. In der 
Sache hat Koch unrecht. Denn Sanktionsmöglichkeiten für 
Hartz-IV-Empfänger gibt es bereits. Außerdem fehlen uns fünf 
Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Fordern ist nicht falsch, aber wo 
bleibt das Fördern? Kochs Vorstoß ist ein Vorgeschmack darauf, wie 
diese Republik von Union und FDP verändert werden soll in eine 
Richtung, die die Mehrheit der Bevölkerung ablehnt. Das trifft für 
die Steuersenkungen ebenso zu wie für den Ausstieg aus dem 
Atomausstieg. Wenn man die Bevölkerung fragt: Was ist euch wichtiger:
Kindergartenplatzgarantie, Ganztagsschulen und Verzicht auf 
Studiengebühren oder aber Steuersenkungen zu Lasten künftiger 
Generationen auf Pump, reagiert die Mehrheit sehr vernünftig. Ich 
würde mir wünschen, dass ein Teil der Vernunft bei der Regierung 
ankommt.
Wie sähe ein Sparprogramm der Grünen aus, wenn sie im Bund in 
Regierungsverantwortung wären?
Özdemir: Zum einen müssten viele der unökonomischen Subventionen 
gestrichen werden. Dann sollte eine Kerosinsteuer eingeführt werden. 
Im Gegenzug könnte das Bahnfahren billiger werden. Wir schlagen zudem
vor, den Solidaritätszuschlag umzuwandeln in einen Bildungssoli. Wir 
befürworten auch eine zeitlich befris"tete Vermögensabgabe. Wichtig 
ist zudem, dass wir gezielt die entlasten, die wirklich bedürftig 
sind. Das sind für mich die Kinder von Hartz-IV-Empfängern. Unser 
Problem in Deutschland sind nicht die zu hohen Steuersätze, sondern 
die hohe Abgabenlast. Dies wird sich noch verschärfen, denn die 
Steuersenkungen werden erkauft durch eine Erhöhung der Abgaben.
,,Wenn Union und FDP die Laufzeiten verlängern, bekommen sie 
richtig Ärger", haben Sie kürzlich gesagt. Wie sähe dieser Ärger aus?
Özdemir: Wir werden auf die Straße gehen, wir werden die 
Bevölkerung mobilisieren. Wer Laufzeiten für Atomkraftwerke 
verlängert, um die Freunde bei der Atomlobby zu bedienen, gefährdet 
massiv den Ausbau erneuerbarer Energien. Deutschland ist gerade wegen
des Atomausstieges weltweit führend in diesem Bereich. Ohne jede Not 
wird dieser Vorsprung nun aufs Spiel gesetzt. Die Wirtschaft kann 
daran kein Interesse haben. Ganz zu schweigen von dem völlig 
ungelösten Atommüll-Problem.
Die Bundesregierung will die Zahl der Bundeswehrsoldaten in 
Afghanistan aufstocken und hat zugleich einen Abzugsplan vorgelegt. 
Befürworten Sie diese Pläne?
Özdemir: Die Grünen haben stets gesagt, dass es keine militärische
Lösung für den Konflikt geben kann, wenn man nicht darauf setzt, Herz
und Verstand der Menschen in Afghanistan zu gewinnen. Deshalb ist es 
richtig, dass die Amerikaner ihre Strategie radikal geändert haben 
und nun mehr Präsenz auf den Straßen zeigen, mit den Leuten reden. 
Wir machen das noch zu wenig. Eine höhere Präsenz geht allerdings 
auch mit einem höheren Risiko einher. Bevor wir die Diskussion auf 
die Truppenaufstockung verengen, sollten wir das machen, worin wir 
gut sind: Die Ausbildung der Polizei. Hier haben wir bisher zu wenig 
gemacht, hier muss noch stärker als geplant aufgestockt werden. Mehr 
tun müssen wir auch beim zivilen Wiederaufbau, beim Aufbau einer 
Rechtsstaatlichkeit. Die Amerikaner haben unter Präsident Obama 
radikal umgesteuert und investieren jetzt ein Vielfaches in den 
zivilen Wiederaufbau. Die Bundesregierung trottet dieser Strategie 
jetzt nur halbherzig hinterher. Wir brauchen aber auch eine klare 
Abzugsperspektive. Aber wir werden nicht dort abziehen können, um 
verbrannte Erde zu hinterlassen. Denn es gibt einen Preis für den 
Abzug, den man zahlen muss. Das zeigen die Beispiele Somalia und 
Jemen. Ein staatlicher Zerfall birgt das Risiko, dass sich 
Terrorgruppen wie El Kaida dort einnisten. Im übrigen würde ich mir 
wünschen, dass die Bundesregierung die europäische Außenpolitik 
massiv stärkt und so dafür sorgt, dass Obama mit der EU einen echten 
Partner hat. Die EU ist derzeit aber leider mehr mit sich selbst 
beschäftigt. Bei aller Kritik an Helmut Kohl -- unter ihm wäre es 
undenkbar gewesen, dass man die Auswahl des EU-Spitzenpersonals nach 
dem Motto trifft: Wer hat am wenigsten zu sagen, wer stellt die 
geringste Gefahr für die nationalen Regierungen dar. Am Beispiel der 
Türkeipolitik zeigt sich, dass die Union -- in diesem Fall nicht die 
FDP -- die Dimension nicht erkannt hat. Wenn die Mehrheit in einem 
muslimischen Land sich auf den Weg macht, ein europäisches Land zu 
werden, sich zu reformieren, kann man nicht sagen, das ist uns egal. 
Wir müssen angesichts der Probleme in der muslimischen Welt hoffen, 
dass sich das türkische Modell durchsetzt und nicht das Modell des 
Fundamentalismus und Fanatismus.
Sie lassen derzeit kein gutes Haar an der FDP...
Özdemir: Das war doch eben fair, ich habe die FDP ausdrücklich von
meiner Kritik an der Türkeipolitik ausgenommen.
Sie waren also zufrieden mit dem Auftritt Westerwelles in der 
Türkei, der zum Ärger der Union nicht von einer privilegierten 
EU-Mitgliedschaft der Türkei gesprochen hatte?
Özdemir: Herr Westerwelle steht in einer Tradition deutscher 
Außenpolitik, die wir Grüne mit Joschka Fischer nicht erfunden haben,
sondern die zurückgeht auf Walter Hallstein und Konrad Adenauer. 
Damals hat Deutschland gemeinsam mit anderen europäischen 
Gründungsnationen zu Recht das strategische Interesse daran betont, 
dass die Türkei eng an den Westen gebunden wird, wenn sie bestimmte 
Bedingungen erfüllt. Und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern in 
der Realität. Es reicht nicht aus, dass in Ankara und Istanbul die 
Gleichberechtigung von Mann und Frau durchgesetzt wird, es muss auch 
im kleinsten Dorf in Anatolien ankommen. Wenn die Türkei die 
Voraussetzungen nicht erfüllt, kommt sie nicht in die EU. Insofern 
würde ich sagen, dass die Beitrittsverhandlungen, die wir Grünen 
führen würden, viel härter wären als die Verhandlungen, die die 
Europäische Union etwa mit Rumänien und Bulgarien geführt hat. Die EU
hat hier Länder aufgenommen, in denen die Korruption fröhliche 
Urstände feiert, wo das Justizsystem etwa in Bulgarien im höchsten 
Maße zweifelhaft ist, wo die alten Kader noch an der Macht sind und 
sich Posten und EU-Mittel gegenseitig zuschanzen. Es kann und darf 
nicht sein, dass wir da mit zweierlei Maß messen.
Sie sind 2002 nach der Bonusmeilen-Affäre als innenpolitischer 
Sprecher der Grünen-Fraktion zurückgetreten. Was raten Sie heute 
Christian Wulff, der mit seiner Flugreise in Turbulenzen geraten ist?
Özdemir: Da gilt das Bibelwort: Richtet nicht, auf das ihr nicht 
gerichtet werdet. Mit dem Maß, mit dem du misst, wirst du gemessen 
werden. Das sagt der säkulare Muslim Cem Özdemir dem Protestanten 
Christian Wulff. Herr Wulff muss das in Ordnung bringen, und er hat 
dazu schon das Nötige gesagt. Ansonsten gilt, dass Politiker 
besonderen Maßstäben gerecht werden müssen. Das gilt nicht nur für 
Florida-Flüge, sondern auch -- wie in meinem Fall -- für die nicht 
erfolgte Trennung von dienstlich und privat erworbenen Bonusmeilen. 
Politiker stehen unter besonderer Beobachtung, haben auch 
Vorbildfunktion. Aber das muss man vorher wissen, niemand zwingt 
einen, Politiker zu werden.
Das Interview führte Werner Kolbe

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Werner Kolbe
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