Landeszeitung Lüneburg: Vom "Schneeball Erde" zum Bioplaneten -- Paläontologe Prof. Seilacher über die Zwischenherrschaft der Dino-Einzeller
Lüneburg (ots)
Prof. em. Dr. Adolf Seilacher (85) ist emeritierter Professor für Paläontologie der Universität Tübingen. Die Royal Swedish Academy of Science zeichnete ihn 1992 mit dem Crafoord Preis aus, der für herausragende Leistungen in Forschungsbereichen vergeben wird, die im Rahmen des Nobelpreises nicht berücksichtigt werden. Insbesondere seine Forschungen zu fossilen Spuren seit dem frühen Kambrium brachten ihm Weltruhm ein.
Entwickelte sich das Leben auf der Erde mehrmals?
Prof. Adolf Seilacher: Zu dieser Frage gibt es natürlich keine direkten Belege. Da es sich aber um einen sehr komplizierten und entsprechend seltenen Vorgang handelt, ist einmalige Entstehung irdischen Lebens wahrscheinlicher. Einmal da, hat es sich aber wie ein Buschfeuer ausgebreitet. Dadurch wurde unsere Erde zum Bioplaneten. Interessant ist allerdings die lange Anlaufzeit der Evolution. Das erste Leben entwickelte sich schon vor etwa 3,4 Milliarden Jahren. Doch erst vor 600 Millionen Jahren, in der letzten Phase des Präkambriums entstanden komplexe Großorganismen, einschließlich der ersten vielzelligen Tiere.
Sind nicht die Spuren eines Wurmes, die Sie in Nordindien fanden, 1,1 Milliarden Jahre alt?
Prof. Seilacher: Nein, denn was ich 1998 als Wurmspuren deutete, weil zunächst keine andere denkbare Erklärung vorhanden war, entpuppte sich in diesem Januar als Pseudofossilien -- also als Formen im Sediment, die fossilisierten Spuren ähneln, aber durch physikalische Prozesse entstanden sind. Zudem haben neue radiometrische Verfahren das Alter der entsprechenden Gesteinsschicht sogar auf 1,5 Milliarden Jahre angehoben. Und zu dieser Zeit waren hochkomplexe Organismen wie Würmer undenkbar. Die ersten größeren Organismen treten erst nach einem einschneidenden Ereignis auf, das man "Schneeball-Erde" nennt. In dieser Super-Eiszeit waren sogar die Ozeane eingefroren. Erst nach diesem gewaltigen Einschnitt traten Großorganismen auf. Und die waren bizarr: Denn nach meiner -- nicht ganz unangefochtenen -- Erklärung waren diese ersten Großorganismen, die die dominierenden Wesen ihrer Epoche waren, riesige Einzeller -- sozusagen "Dino-Einzeller". Offenbar gibt es ein physiologisches Größenlimit für Einzeller: Eine schneeballgroße Zelle wäre lebensunfähig. Diese Grenze umgingen die Dino-Einzeller, indem das Protoplasma in langgestreckte Kammern aufgeteilt wurde. So konnten sie Körper von bis zu einem Meter Länge erreichen.
Daher rührte das Luftmatratzen-Aussehen der Ediacara-Wesen?
Prof. Seilacher: Genau. Zum Glück gibt es ein modernes, wenn auch nicht verwandtes Gegenstück, die Xenophyophoren von immerhin 25 Zentimeter Länge. Diese bauen Sand und Schalen in ihre Kammerwände ein. Sie nehmen außerdem ebenfalls Sedimentkörner auf, um die sie umgebenen Bakterien zu fressen. Statt die Körner wieder auszuscheiden, benutzen sie sie, um ein Innenskelett aufzubauen, dessen Poren den zulässigen Durchmesser haben. Die Foraminiferen bauen die kalkhaltige Hülle um ihr Protoplasma ebenfalls in Kämmerchen auf. Das gleiche Prinzip, aber in einem viel kleineren Maßstab.
Deutet die Universalität dieses Bauprinzips an, dass die Ediacara-Organismen zu unseren Vorfahren zählen oder endeten sie in einer Sackgasse?
Prof. Seilacher: Die dominierenden Wesen der Ediacara-Zeit zählen nicht zu unseren Vorfahren. Sie schlugen einen anderen Weg zum Größenwachstum ein als den der Vielzelligkeit. Die Vielzeller erfanden das Teilen der Zellen, analog zur Kammerunterteilung bei diesen riesigen Einzellern. Die Ediacara-Organismen, die ich Vendobionten getauft habe, blieben zwar mit ein paar Millimetern blattartig dünn, wurden aber bis zu einem Meter groß.
Lebten die Vendobionten allein auf der Welt oder existierten in einer ökologischen Nische Mehrzeller -- wie viel später Säugetiere im Schatten der Dinosaurier?
Prof. Seilacher: Letzteres ist das Modell im Präkambrium: Es gab viele Formen von Vielzellern im Ediacarium. In erster Linie zu nennen wäre da ein molluskenartiges Wesen, das noch keine Schale hatte -- Kimberella. Damals blieben auch Abdrücke von Weichtieren erhalten, quasi "bakterielle Totenmasken" durch eine zähe, bakterielle Schleimschicht am Meeresboden -- ähnlich dem Schleim, der sich heute in stehenden Tümpeln bilden kann. Zum Teil blieben sogar die Weidespuren von Kimberella erhalten. Sie belegen, dass das Wesen über eine Reibezunge verfügte wie heutige Mollusken. Die fächerartige Ausdehnung der Reibespuren zeigt, dass sich Kimberella beim Abweiden nicht fortbewegte, sondern stationär blieb und sich über einen rüsselartigen Fortsatz mit dem Mund und der Reibezunge an der Spitze ernährte. Aber sie und andere Vielzeller blieben größenmäßig und nach Individuenzahl im Schatten der einzelligen Riesen.
Waren Kimberella und die luftmatratzenförmigen Wesen Nahrungskonkurrenten?
Prof. Seilacher: Erstaunlicherweise nicht. Die frühen Vielzeller waren sehr klein im Vergleich zu den Einzellern und zudem längst nicht so häufig. Die Fossilien der "Dinosaurier des Präkambriums" zeigen nie Bissspuren, obwohl sie eine präsente und leicht zu ergatternde Nahrung waren. Der ganze Kampf zwischen Raubtier und Beute begann erst mit der kambrischen Explosion, also dem Auftauchen zusätzlicher Tierstämme vor rund 540 Millionen Jahren.
Ist das Wettrüsten zwischen Jägern und Gejagten das Schwungrad der Evolution?
Prof. Seilacher: Ganz bestimmt. Das Wettrüsten ist eine Haupttriebfeder der Evolution. Die Geschwindigkeit der Veränderung wurde dadurch erhöht.
Dann haben die ersten vielzelligen Jäger die paradiesischen, aggressionsfreien Zustände des Präkambriums beendet?
Prof. Seilacher: Genau. Mein Kollege Mark McMenamin hat dafür den wunderbaren Ausdruck geprägt: Der Garten von Ediacara. Das war noch eine friedliche Welt.
Sind denn die ersten Störenfriede im Paradies schon identifiziert?
Prof. Seilacher: Das waren Gliederfüßler, krebsartige Tiere, die auch über einen Meter groß wurden, und über Klauen und Kauwerkzeuge verfügten. Angesichts einer solchen Bedrohung mussten die Beutetiere für Schutz sorgen. Das waren einmal Schalen oder das Verhalten, sich einzugraben -- das sogenannte Verdun-Syndrom. Dieses Eingraben veränderte die gesamte Umwelt. Die Biomatte auf dem Meeresgrund wurde durchlöchert und letztlich zerstört.
Welcher Selektionsdruck kann das Entstehen von Jägern begünstigt haben?
Prof. Seilacher: Was der Anstoß war, wissen wir nicht. Aber wenn es einmal angefangen hat, lässt sich das Wettrüsten nicht mehr stoppen.
Gibt es noch Reste der Ediacara-Welt, die überdauert haben, etwa in lebensfeindlichen Umgebungen am Meeresboden?
Prof. Seilacher: Das ist noch umstritten. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass die herrschenden Ediacara-Organismen am Ende des Präkambriums ausstarben. Sie waren die ersten Opfer der neuen Räuber.
Sie schilderten, wie das Kammer-Prinzip Einzellern die Überwindung ihres Größenlimits gestattet. Bietet die Ediacara-Fauna eine Ahnung davon, wie Leben auf fremden Planeten aussehen könnte?
Prof. Seilacher: Sie haben völlig Recht. Das Leben im Präkambrium wirkt wie Leben auf einem anderen Stern. Aber natürlich können wir darüber nichts empirisch aussagen. Vielleicht bringt die Forschung auf dem Mars noch Ergebnisse in diese Richtung.
Unterstreicht das Bizarre der Ediacara-Welt den Stellenwert des Zufalls in der Evolution?
Prof. Seilacher: Der Zufall ist sicher die wesentliche Triebkraft. Denn nur durch Zufall wird etwas "entdeckt". Ohne Zufall gibt es keine Evolution.
Sind die heutigen Organismen alle Nachfahren der mit Klauen und Panzern bewehrten Sieger der "kambrischen Explosion"?
Prof. Seilacher: Ja, aber genauer geht die Ahnenschaft zurück bis zu den frühen Vielzellern, die schon im Schatten der Ediacara-Wesen lebten. Etwa Kimberella, die zu den Urahnen heutiger Mollusken zählen dürfte. Dazu gibt es Formen, die ein Kanalsystem aufweisen wie heutige Schwämme. Diese sind ohnehin eine sehr primitive Gruppe. Dazu gibt es Verwandte der Quallen und im späten Präkambrium echte Spuren von Würmern. Alle diese Wesen kamen aber erst zum Zuge, als die einzelligen Dinosaurier ausstarben.
Das Interview führte Joachim Zießler
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