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Landeszeitung Lüneburg: ,,Europa wollte Missstände nicht sehen" -- Interview zum Thema Tunesien mit Dr. Isabelle Werenfels, Expertin von der Stiftung für Wissenschaft und Politik

Lüneburg (ots)

Die Tunesier haben als erstes arabisches Volk ihren Diktator davongejagt. Doch noch ist der Zorn der Massen auf die alten Ausbauter nicht verraucht. Jetzt wird der totale Bruch mit der Vergangenheit geprobt. Alle Minister der Ûbergangsregierung traten aus der Partei des Ex-Diktators aus. Wir sprachen mit Maghreb-Expertin und Politik-Beraterin Dr. Isabelle Werenfels über Ursachen der Revolte, Versäumnisse der EU und Zukunftsaussichten.

Kann es sich Deutschland leisten, den Maghreb immer nur dann zu beachten, wenn es spektakultäre Attentate oder Revolten gibt? Dr. Isabelle Werenfels: Eigentlich nicht, aber das war die bisherige Politik. Ich befürchte, dass nicht mal die Ereignisse in Tunesien daran etwas grundlegend ändern werden. Berlin hat den Maghreb traditionell den Franzosen als Einflussgebiet überlassen. Wir haben dort zwar erhebliche Interessen, doch wir verfolgen sie zumeist gemeinsam mit anderen europäischen Ländern: Etwa die Eindämmung illegaler Migration, die Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität. Wir engagieren uns dann stärker, wenn es um unsere Energiesicherheit geht. Libyen ist Deutschlands viert"wichtigster Erdöllieferant, Algerien der achtwichtigste. Bald könnten wir auch erneuerbaren Strom aus der Region beziehen.

Inwieweit hat Europa in Tunesien mit seiner Konzentration auf sicherheitspolitische Fragen Chancen versäumt? Dr. Werenfels: Tunesien ist ein Paradebeispiel dafür, wie Europa Instrumente, über die es verfügt, nicht eingesetzt hat. Tunesien ist in hohem Maße von Europa abhängig, das sein wichtigster Handelspartner ist. Deshalb hätte Europa bei all den Verträgen, die es mit dem Regime von Ben Ali abgeschlossen hatte, viel stärker auf politische Liberalisierung drängen können und sollen. Tunis hätte verhältnismäßig wenig Möglichkeiten gehabt, dem etwas entgegenzusetzen. Die Option, sich von Europa ab- und anderen Nationen zuzuwenden, war wegen der Struktur der tunesischen Wirtschaft und der geografischen Lage des Landes nicht vorhanden. Aber Europa wollte die Missstände nicht sehen, weil es einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorzeigereformer in Nordafrika präsentieren wollte. Und da kamen letztendlich nur Marokko und Tunesien in Frage.

Nun ist der vermeintliche Vorzeigereformer aus dem Land gejagt worden. Kann die Revolte zu einem echten Systemwechsel führen oder behalten die alten Kader die Fäden in der Hand? Dr. Werenfels: Es ist noch zu früh, den Endpunkt der angestoßenen Entwicklung abzuschätzen. Aber selbst, wenn die alten Kader die Revolte kanalisieren wollen, können sie den Dammbruch nicht mehr rückgängig machen. Ein Zurück zu den alten Verhältnissen ist nicht mehr möglich. Selbst, wenn sich Tunesien jetzt nicht demokratisieren sollte, wird es nicht mehr so repressiv sein wie zuvor. Die Armee erwies sich nicht als die erwartete Stütze des Ben-Ali-Regimes. Weshalb verweigerte sie die Gefolgschaft und welche Rolle wird sie künftig spielen? Dr. Werenfels: Über die Beweggründe der Armeeführung kann ich zu diesem Zeitpunkt nur Vermutungen anstellen. Möglicherweise war es Überzeugung -- eine grundsätzliche Ablehnung der brutalen Unterdrückung der Opposition. Vielleicht war es aber auch nur Opportunismus. Die Eliten haben erkannt, dass sich Ben Ali nicht mehr halten lässt und wollten nicht mit ihm fallen. So stürzten vorläufig nur Ben Ali und seine Familie sowie zentrale Figuren im Sicherheitsapparat. Viele Vertreter der alten Eliten werden ihre Haut retten können, indem sie auf den neuen Kurs einschwenken. Derzeit scheint die Armee eine konstruktive Rolle zu spielen, hoffentlich beansprucht sie nicht -- wie etwa in Algerien --künftig eine zu große Rolle.

Wird es den Aufbegehrenden reichen, wenn das korrupte Regime nur enthauptet wird? Dr. Werenfels: Es sieht so aus, als ob vielen der Umsturz nicht weit genug geht. Aber da stellt sich die Frage, ob eine durchgreifende Zäsur überhaupt machbar ist. Das tunesische System, insbesondere die Verwaltung, hat lange relativ gut funktioniert, bemisst man es an wirtschaftlichem Erfolg. Ersetzt man alle Funktionäre des gesamten Systems ohne Übergangsphase, droht Chaos. In dieser Übergangsphase verweigert sich die Islamisten-Bewegung Al-Nahdha einer Regierung der nationalen Einheit. Könnte sie bei Wahlen als nicht vom Regime korrumpierte Partei am stärksten profitieren? Dr. Werenfels: Das ist durchaus möglich. Und das würde zu heftigen Konflikten führen, weil den Islamisten auch regimeferne Gruppen in Tunesien kritisch gegenüberstehen.

Die Al-Nahdha sieht sich in der Tradition der türkischen AKP. Zu Recht? Dr. Werenfels: Das kann man erst sagen, wenn sie irgendwo Verantwortung übernommen haben. Rhetorisch waren sie immer gemäßigt und dialogbereit, beispielsweise als sie in den 80er-Jahren das Personalstatut anerkannten, das den Frauen weitgehende Rechte zubilligte.

Wie groß ist die Gefahr einer Radikalisierung in der Gesellschaft, falls die erhoffte Verbesserung des Lebensstandards ausbleibt? Dr. Werenfels: Die tunesische Gesellschaft ist relativ modern, aber in den vergangenen zehn Jahren zunehmend fromm geworden. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Teile der Bevölkerung radikalisieren, wenn der Umsturz keine spürbaren Verbesserungen bringt. Es ist aber angesichts der Modernisierung in den vergangenen vier Jahrzehnten nicht zu erwarten, dass sich die Gesellschaft in Gänze islamisiert.

Muss Europa die Zuwanderung junger Maghrebiner erleichtern, um Druck aus dem Kessel zu nehmen? Dr. Werenfels: Absolut. Ein Grund für die hohe Arbeitslosigkeit in Tunesien war, dass weniger junge Tunesier Jobs in Europa gefunden haben. Einmal wegen der Wirtschaftskrise, aber auch wegen der nach den Anschlägen vom 11. September für Maghrebiner erhöhten Hürden, um Arbeitsvisa in Europa zu erlangen.

Können Mega-Projekte wie die Solarstrom-Initiative "Desertec" dem Maghreb eine Perspektive geben? Dr. Werenfels: Solche Projekte können mithelfen, die Lage zu verbessern, doch letztlich müssen möglichst viele deutsche Firmen in Tunesien investieren und dort Arbeitsplätze schaffen. Es bedarf eines langen Atems, aber zumindest wurde das Bevölkerungswachstum in Tunesien eingedämmt. Demographischer Druck wird die Lage mittelfristig, anders als in den Nachbarstaaten, nicht verschlechtern.

Die benachbarten Autokraten im Maghreb fürchten, dass der Funke der Revolte überspringt. Zu Recht? Dr. Werenfels: Ja. Aber ich glaube nicht, dass dort die Rahmenbedingungen so sind, dass es in absehbarer Zeit zu ähnlichen Szenarien kommen könnte. Das tunesische System hatte von allen in der Region -- Libyen ausgenommen -- am wenigsten politische Ventile. Es war das personalisierteste, wiederum Libyen ausgenommen. Tunesien hat in Nordafrika die gebildetste, modernste Gesellschaft. Zwei Dinge haben die Revolte angestoßen: Zum ers"ten die Repressionen des Regimes. Die Leute wurden zwar nicht auf offener Straße erschossen, aber dennoch brutal unterdrückt. Das hat in dieser modernen Gesellschaft einen Aufschrei ausgelöst, der nicht verstummte. So gingen alle auf die Straße, Hausfrauen, Künstler, Anwälte, Arbeitslose und Wissenschaftler. Zum zweiten haben die Wikileaks-Depeschen von amerikanischen Diplomaten den Tunesiern das bestätigt, worüber bis dato nur gemunkelt worden war: Dass das Regime bis in die Spitze korrupt und moralisch verfault war. Das hat die Empörung über die soziale Ungleichheit nochmals angefacht.

Also war dies die erste Wikileaks-Revolution? Dr. Werenfels: Das wäre eine Überbetonung des Stellenwerts, aber Wikileaks hat eine Rolle gespielt.

Abscheu vor korrupten Eliten spült oft Islamisten Wasser auf die Mühlen. Al-Quaida hat im Maghreb eine Basis. Warum kann es in Tunesien anders laufen? Dr. Werenfels: Tunesien hat keine starke islamistische Bewegung hervorgebracht. Die von oben, vom ersten Präsidenten Habib Bourguiba angestoßene Modernisierung hat Tunesien stark geprägt -- letztlich sogar die Islamisten des Landes. So ist die weitgehende Gleichstellung der Frau in Tunesien relativ unangefochten, hier lässt sich das Rad nicht mehr komplett zurückdrehen. Zudem gibt es für Unzufriedene andere Optionen, etwa eine säkulare Opposition. So waren auf den Transparenten der Demons"tranten keine fundamentalistischen Parolen zu lesen wie sonst häufig in arabischen Ländern. Das war keine islamistische Revolution.

Kann Tunesien zum Vorbild werden? Dr. Werenfels: Zumindest ist es ein Glück, dass die Revolte in Tunesien stattfand. Das Land kennt, anders als etwa der Irak oder Libanon, keine ethnischen und konfessionellen Konflikte und verfügt über eine breite und gebildete Mittelschicht. Damit hat Tunesien in der Region mit die besten Perspektiven für eine erfolgreiche Demokratisierung.

Das Interview führte Joachim Zießler

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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