Landeszeitung Lüneburg: Wir verspielen Europas Vertrauen
Jörg Schönbohm (CDU) teilt Kohl-Kritik an Merkels Euro-Kurs und beklagt Mangel an konservativen Galionsfiguren
Lüneburg (ots)
In der Euro-Krise mehrt sich die Kritik am Führungsstil der Kanzlerin. Jörg Schönbohm vom konservativen Flügel der CDU meint, dass der 2002 eingeleitete Modernisierungskurs gescheitert ist: "Glaubwürdige, konservative Köpfe haben die Bühne verlassen. Die Kurswechsel in Sachen Atom, Wehrpflicht und Euro verspielen das Vertrauen der Bürger wie der Nachbarn."
Welche Alleinstellungsmerkmale hat die CDU?
Jörg Schönbohm: Die CDU hat sich für die deutsche Einheit eingesetzt, als andere dagegen waren. Und hat die deutsche Einheit maßgeblich gestaltet. Und sie war die Partei, die unter Konrad Adenauer praktisch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begann, Europa zu gestalten. Sie versuchte erfolgreich, ein Europa zu versöhnen und zusammenzuführen, das aufgrund der Schrecken des Zweiten, aber auch des Ersten Weltkriegs gespalten war. Und die CDU war die Partei, die die soziale Marktwirtschaft gegen den erbitterten Widerstand der Sozialdemokratie eingeführt hat. Die CDU hielt die Stellung, wenn die Zeiten hart waren, etwa bei der Nachrüstungsdebatte -- der unmittelbaren Vorgeschichte der Einheit. Dadurch, dass sich die SPD von ihren Wurzeln entfernt und auf die CDU zubewegt hat, ist der Unterschied manchmal nicht mehr deutlich merkbar. Aber die CDU ist bei ihrem Kurs geblieben. Die aktuellen Irritationen wurden durch die Entscheidung für eine Energiewende ausgelöst. Dieser Kurswechsel kann zwar gut begründet werden, doch das wurde nicht getan. Hier muss aufgearbeitet werden. Ähnlich ist es mit der Abschaffung der Wehrpflicht. Ich war selbst immer einer ihrer Befürworter, doch mittlerweile gibt es keinen Grund mehr für sie. Deutschland ist nur von Freunden und Alliierten umgeben. Aber wie die Wehrpflicht außer Dienst gesetzt wurde, haben viele nicht verstanden. Letzter Punkt: Die CDU hat in der Familienpolitik lange Zeit ein mäanderndes Bild abgegeben. Jetzt hat sie ihre Klarheit zurückgewonnen: Es geht darum, die Familien besonders zu fördern.
Erwin Teufel beklagt fehlendes Profil der CDU, Helmut Kohl vermisst einen Kompass. Erleben wir nur einen Aufstand der alten Kämpen?
Schönbohm: Nein. Noch vor Teufel hatte ich davor gewarnt, dass wir unser Profil verspielen. Unser Hauptproblem ist: Wir haben zu wenig Persönlichkeiten, die die Facetten unserer Volkspartei überzeugend vertreten können. Was Helmut Kohl über die Europapolitik gesagt hat, ist leider richtig. Derzeit reduzieren wir Europa auf Finanzausgleich, auf technokratische Fragen. Was wir dabei verspielen, ist das Vertrauen, das uns unsere Nachbarn schenkten. Dieselben Staaten, die wir im Zweiten Weltkrieg überfallen haben, vertrauten Deutschland mehr als viele unserer Intellektuellen und viele unserer Politiker, die vor 1989 meinten, Deutschland hätte das Recht auf die Einheit verloren. Weil unsere Nachbarn uns ermöglicht haben, in einem wiedervereinigten Land zu leben, müssen wir als die größte Volkswirtschaft des Kontinents größere Verantwortung für Europa annehmen. Man muss sich das unsinnige Blutvergießen in Mitteleuropa im 20. Jahrhundert vor Augen halten, um zu verstehen, welch historischer Einschnitt die europäische Einigung darstellt. Ich würde mir wünschen, dass sich der Bundespräsident oder die Bundeskanzlerin dieser grundsätzlichen Bedeutung Europas in Reden verstärkt widmen würden.
Ist das Unbehagen an dem Aus-dem-Blick-verlieren zentraler Fragen in der CDU verbreitet?
Schönbohm: Das größere Unbehagen besteht in der CDU darüber, dass die Partei nicht mehr in drei Sätzen sagen kann, wofür sie steht. Im Kalten Krieg war das noch anders: Gegen die Sowjets, für die Westbindung, für die Freiheit West-Berlins und für die Option auf die deutsche Einheit. Dazu mangelt es an harten politischen Auseinandersetzungen, in denen dem Bürger klar gemacht wird, worin sich die Parteien eigentlich unterscheiden. Die Zeiten sind eben komplizierter.
Verspielt Angela Merkel das konservative Erbe der CDU?
Schönbohm: Frau Merkel hat zwar die Fähigkeit zur harten Auseinandersetzung bewiesen, aber immer betont, dass sie nicht konservativ sei. Zwar hatte sie mir -- als ich noch im Präsidium der CDU saß -- zugesichert, dass sie das konservative Tafelsilber der Partei putzen werde, während ich es bewache. Doch es bleibt bei der Feststellung: Es mangelt der CDU an Persönlichkeiten, die das konservative Element glaubhaft vertreten. Die Abgänge von Volker Rühe, Friedrich Merz und Roland Koch hat die Partei nicht verkraftet. Dass sie gingen, liegt sicher auch an der Parteivorsitzenden. Zumindest kann ich nicht erkennen, dass man die drei halten wollte.
Ist bei einer solchen Personalpolitik der Spagat zwischen konservativ und liberal zu halten?
Schönbohm: Nein, den kann man so nicht halten. In der Ära Kohl funktionierte das anders: Norbert Blüm verkörperte den sozialen Flügel, Gerhard Stoltenberg den wirtschaftlichen sowie konservativen und Manfred Wörner beziehungsweise Rühe standen für die Westbindung. Wer steht denn heute für die Außen- oder Europapolitik der CDU?
Verliert das "C" im Parteinamen an Bindekraft?
Schönbohm: Diese Diskussion haben wir im Zusammenhang mit der Präimplantationsdiagnostik geführt. Doch diese moralische Frage ist so komplex, dass ich mir nicht zutraue, zu entscheiden, diese Haltung ist christlich und diese nicht. Unzweifelhaft aber ist, dass die CDU das christliche Menschenbild pflegt, das von der Unverwechselbarkeit eines jeden Individuums ausgeht und von dem Recht eines jeden Einzelnen, sein eigenes Glück zu gewinnen. Wohingegen etwa SPD und Linkspartei den Menschen starke Hinweise geben wollen, wie sie ihr Glück verwirklichen können. Um den christlichen Charakter der CDU mache ich mir keine Sorgen. Umgekehrt machte es mir aber meine evangelische Kirche durch ihr Politisieren oft schwer. Sie sollte sich daran erinnern, dass Glaubensfragen mehr sind als nur soziale Fragen. Die Antwort auf die zunehmende Attraktivität des Islam für viele Menschen etwa muss von der Kirche kommen.
Die bürgerliche Koalition schafft Wehrpflicht und Atomkraft ab; Rot-Grün leistete mit den Steuersenkungen von 2000 den größten Beitrag zum Thema "Mehr Netto vom Brutto". Verheddern sich konservative Wähler bei so viel Unübersichtlichkeit?
Schönbohm: Angela Merkel hat mal zu Helmut Kohl gesagt: "Neue Zeiten erfordern neue Antworten." Wichtiger, als neue Antworten zu geben, muss aber sein, sachgerechte Lösungen anzubieten. Um dorthin zu kommen, bedarf es aber einer sauberen Analyse. Was nicht sein kann, ist, die Alternativlosigkeit des eigenen Kurses zu behaupten, um sich der Notwendigkeit zu entheben, für die eigene Position zu werben. Nach meinem Verständnis ist es geradezu die Aufgabe von Politik, Alternativen aufzuzeigen, Vor- und Nachteile abzuwägen, damit die Bürger die Wahl haben. Ein Desaster war der Ablauf der Energiewende. Noch vor einem Jahr behauptete man, die Atomkraftwerke seien sicher. Dann wurde der Ausstieg beschlossen, aber nicht mehr erklärt. So verspielt man Vertrauen.
Sind diese handwerklichen Fehler Folge des Versuchs, Wechselwähler zu gewinnen?
Schönbohm: Das war meine grundsätzliche Kritik, als die entsprechende Programmatik 2002 geschrieben wurde. Damals wie heute gilt: Wer Wechselwähler gewinnen will, muss sich erstmal der Stammwähler sicher sein. Derzeit ist es aber so, dass die Stammwähler den Urnen fern bleiben und die Wechselwähler ihr Kreuz woanders machen, weil wir nicht grüner sein können als die Grünen und nicht linker als die Linke. Damit ist die Strategie, die Frau Merkel ausgegeben hatte, erkennbar nicht aufgegangen. Ich sehe mit Sorgen den Wahlen von 2014 entgegen.
Müssen sich SPD und Union auf Dauer damit abfinden, Volksparteien a.D. zu sein? Die Sozialmilieus, aus denen sie bisher ihre Stammwähler rekrutierten, trocknen aus.
Schönbohm: Das Wesen einer Volkspartei ist, milieu-übergreifend Menschen an sich binden zu können. Dafür braucht man verschiedene Flügel und Personen, die sie repräsentieren. Zugleich müssen diese Protagonisten aber deutlich machen, dass sie etwas Überwölbendes verbindet.
Nochmals nachgehakt: Sind die Zeiten struktureller Mehrheiten passé?
Schönbohm: Ja. Und weil es die klassischen bürgerlichen oder Arbeitermilieus nicht mehr gibt, werden wir häufiger erleben, dass Wählerstimmungen rasend schnell kippen. 2004 haben wir das in Brandenburg und Sachsen erlebt, als wir innerhalb von sechs Wochen 15 Prozentpunkte verloren haben. Wenn Wählermassen so leicht so schnell zu beeinflussen sind, ist das kein gutes Zeichen für eine Demokratie. In schwierigen Zeiten kommt es noch stärker auf die Glaubwürdigkeit der verantwortlichen Personen an. Und die ist verknüpft mit der Lebensleistung. Würden die Bürger von dem jeweiligen Politiker einen Gebrauchtwagen kaufen? Die Antwort auf diese Frage bekommt mehr Gewicht in unsicheren Zeiten.
Das Interview führte Joachim Zießler
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