Landeszeitung Lüneburg: Brasilien baut Marine-Muskeln auf
Ausbau einer Seemacht mit Atom-U-Booten und Flugzeugträgern soll Ansprüche im Südatlantik sichern
Lüneburg (ots)
Baut China seine militärischen Fähigkeiten aus, wird dies in Europa aufmerksam registriert. Nahezu unbemerkt blieb hingegen, dass Brasilien bis 2030 die Zahl seiner Kriegsschiffe nahezu verdoppeln will. Welche Ambitionen hat Brasilien als Seemacht? Welche Chancen und Risiken ergeben sich für die NATO? Experte Sascha Albrecht von der Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin antwortet.
Wenn in Deutschland über aufstrebende Mächte nachgedacht wird, rücken meist China und Indien in den Fokus. Warum wird Brasiliens Aufstieg und Aufrüstung so oft übersehen?
Sascha Albrecht: Brasiliens ökonomischer Aufstieg wird in Deutschland sehr wohl wahrgenommen, er ist für uns im Alltag aber nicht so sichtbar. Während wir allerdings Technologie "Made in China" nicht mehr nur mit Billigprodukten verbinden, sondern ganz deutlich in allen für uns wichtigen Hightech-Produkten vorfinden, ist das brasilianische Wirtschaftswachstum für uns nicht so sichtbar, da brasilianische Hightech uns im Alltag nicht bewusst begegnet. Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht, dass der weltweit drittgrößte Flugzeughersteller die brasilianische Firma EMBAER ist, deren Flugzeuge auch von deutschen Airlines geflogen werden. Die militärische Aufrüstung Chinas wird stets als Gegenpol zum amerikanischen Machtanspruch kommuniziert und von daher oft als Bedrohung westlicher Interessen dargestellt. Im Falle Chinas kann man auch wirklich von einer Aufrüstung sprechen. Brasiliens maritime Rüstung steht allerdings in einem ganz anderen Licht. Sie konkurriert nicht mit einer auch geopolitisch relevanten Präsenz der USA oder anderer Mächte im Südatlantik, sondern kommt vor allem durch die Abwesenheit einer solchen Präsenz besonders zur Geltung. Ehrlicherweise muss man auch sagen, dass die Marine Brasiliens, gemessen an der Größe der Küstengewässer und der Wirtschaftszone, deutlich unterrepräsentiert ist. Wir sprechen hier immerhin von einem Seegebiet, dass zweieinhalb Mal so groß ist wie das Mittelmeer.
Verfolgt Brasilien mit dem Ausbau seiner Seemacht Interessen, die über die Landesverteidigung hinausgehen?
Sascha Albrecht: Ich denke schon. Für die Landesverteidigung bräuchte Brasilien diesen Aufbau eigentlich nicht, da es an einem Gegner fehlt und zum reinen Schutz der Wirtschaftszone auch eine größere Anzahl von Hochseepatrouillenschiffen in Verbindung mit anderen Überwachungssystemen ausreichen würde. Brasilien möchte aber, und das hat vor allem der letzte Präsident Lula in seinen beiden Amtszeiten sehr deutlich gemacht, als relevanter regionaler und globaler Akteur wahrgenommen werden. Und hierzu sind prestigeträchtige Schiffe, wie Flugzeugträger und Atom-U-Boote sehr wichtig.
Was ist von Aussagen zu halten, Atom-U-Boote würden gebaut, um die Ölreserven vor den Küsten zu schützen?
Sascha Albrecht: Das ist die offizielle Begründung der Marine und der Politik. Ich denke jedoch, dass das Projekt nuklear angetriebener U-Boote vor allem Prestigecharakter hat. Es ist ja an sich auch nicht neu, sondern ein aus dem "Dornröschenschlaf" erwecktes Projekt der 70er-Jahre. Nach meiner Einschätzung könnte der Schutz der Ölreserven, wenn überhaupt durch U-Boote, auch problemlos durch konventionell angetriebene U-Boote erfüllt werden, die zu geringeren Kosten in Anschaffung und Betrieb, und somit in größerer Zahl, gebaut und in den bereits vorhandenen Stützpunkten entlang der Küste stationiert sein könnten.
Brasilia kritisiert die Rolle der NATO als Weltpolizist hart. Erwächst dem Bündnis im Südatlantik ein Rivale oder ein Partner?
Sascha Albrecht: Hier müssen zwei Dinge voneinander unterschieden werden. Brasilien ist vom Grundsatz her ein absoluter Gegner der Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten und kritisiert in diesem Zusammenhang die neue globale Rolle der NATO. Die Rolle der NATO im Südatlantik steht jedoch auf einem anderen Blatt. Als es im Zusammenhang mit der Debatte um die neue NATO-Strategie auch um die Frage ging, ob sich die NATO per Festlegung auch für den Südatlantik zuständig fühlen sollte, gab es aus Brasilia erheblichen Widerstand, da Brasilien diese Region für sich als Einflusssphäre beansprucht. Letztendlich hat die NATO diese Festlegung dann nicht getroffen. Brasilien hat kein erkennbares Interesse, ein Rivale der NATO zu sein. Vielmehr möchte man als maritime Macht wahrgenommen werden und reagiert natürlich angespannt, wenn ein viel mächtigerer "Platzhirsch" im Revier auftaucht. Eine klug agierende NATO, die sich derzeit im Südatlantik keinen wirklichen Bedrohungen ausgesetzt sieht, sollte Brasilien als wichtigen Partner anerkennen und dies auch zum Ausdruck bringen. Dies würde beiden Seiten nützen: Brasilien könnte seine regionale Rolle souverän weiter spielen, die NATO hätte mit Sicherheit einen ausgesprochen zuverlässigen Partner mit regionalem Einfluss diesseits und jenseits des Atlantiks.
Die demokratischen Regierungen Brasiliens führen den Kurs der Militärregierung fort, den Schulterschluss mit West- und Südafrika zu suchen. Verfolgt Brasilien eine nationale Strategie?
Sascha Albrecht: Schon zu Beginn der De-Kolonialisierung in Afrika in den 60er-Jahren entdeckte Brasilien diese Länder als Partner und vor allem als Absatzmarkt eigener Produkte. Damals wie heute strebte Brasilien vor allem nach einer stärkeren regionalen und globalen Anerkennung. Präsident Lula hat dabei ab 2003 die afrikanischen Wurzeln der brasilianischen Bevölkerung betont und somit auch eine kulturelle Basis zum Ausdruck gebracht. Dies verband er mit einer diplomatischen Offensive, in deren Folge Brasilien in Afrika heute über mehr diplomatische Niederlassungen verfügt als beispielsweise Großbritannien.
Wird auf den Meeren eine weltgeschichtliche Wende sichtbar: Die Europäer ziehen sich zurück, die Schwellenländer zeigen Präsenz?
Sascha Albrecht: Die europäischen Marinen waren seit dem Ende des Kalten Krieges global nicht mehr besonders stark vertreten. Mitunter gibt es bestimmte Schwerpunkte einzelner europäischer Staaten, wie Frankreich, Großbritannien sowie den Niederlanden. Die Rolle der permanenten globalen Präsenz gebührt allein der US-Marine, deren Kürzungen im Verteidigungsetat jedoch auch Spuren hinterlassen werden. Zurzeit sind die maritimen Herausforderungen im Wesentlichen globaler Natur und bieten somit eine hervorragende Basis für eine umfangreiche Kooperation. USA, NATO sowie EU verfügen über die notwendigen Fähigkeiten und das Know-how, solchen internationalen maritimen Verbänden unterschiedlichster nationaler Couleur wichtige Fähigkeiten wie Führungsmittel und einheitliche Verfahren zur Verfügung stellen zu können.
Als wirkungsvollstes Machtinstrument zur See gilt der Flugzeugträger. Hier specken Paris und London ab, während die Aufsteiger aufrüsten. Vorboten eines Wechsels auch im Weltsicherheitsrat?
Sascha Albrecht: Ich glaube nicht, dass diese Veränderungen auf anstehende Veränderungen in der konstituierten Machtverteilung im Sicherheitsrat hindeuten. Zwar argumentieren brasilianische Politiker und Militärs gerne in der Gestalt eines logischen Schlusses unter den Prämissen: Alle Veto-Mächte im Sicherheitsrat haben Flugzeugträger. Brasilien verfügt ebenfalls über diese Fähigkeiten. Schlussfolgerung: Brasilien ist eine Veto-Macht im Sicherheitsrat. Es muss jedoch, um in der Analogie zur Logik zu bleiben, festgestellt werden, dass die Prämissen für die Schlussfolgerung trotz faktischer Richtigkeit nicht relevant sind. Letztendlich ist das Vorhandensein dieser Fähigkeiten, zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit, klarer Ausdruck militärischer Macht und technologischen Vorsprungs gewesen, der sich nun einmal darin gezeigt hat, dass man fähig und willens war, diese Investitionen zu unternehmen. Diesen heute nachzueifern, führt mit Sicherheit nicht zu einer Veränderung im Sicherheitsrat.
Droht ein Wettrüsten oder ist Brasiliens Führungsrolle in Südamerika unangefochten?
Sascha Albrecht: Ein Wettrüsten droht meiner Einschätzung nach überhaupt nicht. Zwar wird ein solches von einigen Analysten gesehen, ich verstehe die aktuellen Rüstungsprojekte in der Region jedoch eher unter Modernisierungsgesichtspunkten. Die Streitkräfte aller südamerikanischen Staaten waren stark überaltert und mussten dringend modernisiert werden. Dies geschieht nun nach und nach. Venezuela stellt eine Ausnahme dar, da sich dessen Präsident Hugo Chavez offensichtlich mit einer gewissen Leidenschaft rhetorische Schlagabtausche mit den USA geliefert hat. Die starke Kooperation mit Russland sollte vor allem die USA provozieren. Russisch-venezolanische Marinemanöver vor der Haustür der USA boten sich hierfür geradezu an. Seit dem Amtsantritt von Barack Obama ist es allerdings auch in Caracas ruhiger geworden. Brasilien stellt bei der politischen und ökonomischen Integration Südamerikas eine treibende Kraft dar und hat somit großen Einfluss in der Region. Nach außen hin herrscht jedoch keineswegs Einigkeit darüber, ob Brasilien das Sprachrohr Südamerikas sein sollte.
Macht es Sinn, noch Entwicklungshilfe an ein Land zu zahlen, das derart selbstbewusste Ansprüche erhebt?
Sascha Albrecht: Hier lohnt sich ein genauerer Blick. Brasilien erhält, neben China und Afghanistan, zwar aus Deutschland die meisten Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, die jedoch weniger als 0,1 Prozent des brasilianischen Bruttonationaleinkommens repräsentieren. Die deutsche Zielsetzung liegt allerdings auch nicht mehr in klassischer Entwicklungshilfe im Sinne von Armutsbekämpfung, sondern in der Unterstützung globaler Aktivitäten wie Umweltschutz und sogenannter Dreiecks-Kooperationen, bei denen entwicklungspolitische Maßnahmen Brasiliens in Drittländern unterstützt werden. Das macht die entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Brasilien für Deutschland auch weiterhin so wichtig.
Der Schutz der Handelsseewege durch die USA könnte in einigen Regionen wegen neuer Herausforderer künftig nicht mehr selbstverständlich sein. Muss sich Deutschland darauf einstellen, auf See mehr Lasten zu schultern?
Sascha Albrecht: Diese Entwicklung muss auf jeden Fall im Auge behalten werden. Allerdings sehe ich derzeit keine Gefahr in Gestalt der neuen Mächte, wie China, Indien oder Brasilien. Es bestehen viel zu enge gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten, als dass eine Seite ein Interesse daran haben könnte, diese Beziehungen ernsthaft zu stören. Wie ernst eine relevante Beeinträchtigung des Seehandels gesehen wird, zeigen die Reaktionen auf die Drohung des Iran, die Straße von Hormuz zu sperren. Eine größere Gefahr für den Seehandel geht derzeit allerdings von der Piraterie aus. Hier ist ein Engagement Deutschlands heute und auch zukünftig mit Sicherheit gefragt. Ob sich Deutschland über diese Aufgabe hinaus auch an einer verstärkten globalen maritimen Präsenz beteiligen kann und soll, ist in erster Linie eine politische Entscheidung in Deutschland, die im Zweifel durch verstärkte Investitionen unterlegt werden müsste.
Das Interview führte Joachim Zießler
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