Landeszeitung Lüneburg: ,,Die Tür zur Freiheit muss von innen geöffnet werden": Interview mit dem Ex-Schachweltmeister und Putin-Gegner Garri Kasparow
Lüneburg (ots)
Er wurde mit 22 Jahren der jüngste Schachweltmeister aller Zeiten -- nicht zuletzt wegen seiner unbändigen Angriffslust am Brett: Garri Kasparow. Der heute 49-Jährige attackiert nun schon seit Jahren seinen wohl mächtigsten Gegner: Wladimir Putin. Ein Kampf mit ungleichen Waffen. Beim jüngsten Protest gegen die Haftstrafe für die Punkband Pussy Riot wurde Kasparow verhaftet. Im Kreml regiert Paranoia, sagt er. Das System Putin -- für das Schachgenie ein Mix aus Feudalismus und Mafia -- will er durch ein demokratisches System nach deutschem Vorbild ersetzen.
Wer das System Putin herausfordert, landet schnell hinter Gitter. Treten Sie gegen einen Gegner an, der über drei Damen verfügt?
Garri Kasparow: Es könnte sogar noch schlimmer sein. Denn egal, ob eine Dame oder drei Damen -- im Schach bleiben zumindest die Regeln bestehen. Aber in der russischen Politik trete ich gegen jemanden an, der die Regeln ständig verändert. Das heißt, dass die Analogie einfach hinkt. Weil wir im Schach feste Regeln und offene Ergebnisse haben. In Russland ist es umgekehrt: Das Ergebnis steht fest, die Regeln ändern sich ständig. Daher sollte diese Auseinandersetzung im Westen nicht als meine politische Schachpartie begriffen werden, bei der ich auf Sieg spiele. Es ist vielmehr eine moralische Pflicht, die man erfüllen muss, wenn man in seinem Land leben will.
Ihnen drohen bis zu fünf Jahren Haft, weil Sie einen Polizisten gebissen haben sollen. Wie können Sie sich verteidigen?
Kasparow: Dank meines Bekanntheitsgrades ist jede Sekunde dieser Festnahme von unterschiedlichen Blickwinkeln aus gefilmt worden. Dabei wird absolut klar, dass die Gewalt ausschließlich von den Polizis"ten ausging. Inzwischen versucht man bereits, diesen angeblichen Biss herunterzuspielen. Aber ich werde meinerseits die Polizeioffiziere wegen illegaler Festnahme, Gewalt und Verleumdung anzeigen. Nicht, dass ich erwarten würde, damit irgendeinen Erfolg erzielen zu können, aber ich will ein Zeichen setzen. Hat den Kreml die Wucht der Kritik am Pussy Riot-Urteil sowohl in Russland als auch im Westen überrascht? Kasparow: Absolut. Putin war regelrecht geschockt, sieht er die Welt doch ausschließlich durch seine eigenen Augen. Wenn irgendetwas passiert, das ihn stört, vermutet er dahinter eine Verschwörung. Bringt etwa CNN einen kritischen Bericht über Putin, glaubt er, dass ein Anruf von Hillary Clinton dies bewirkt hat. Die Kritik am Pussy-Riot-Urteil löste daher einen Schock aus, weil der Kreml keine Idee hatte, wer in dieser Sache gegen ihn konspirieren könnte.
Grassiert im Kreml eine Paranoia wie zu Stalins Zeiten?
Kasparow: Sie haben das richtige Wort benutzt: Paranoia. Das betrifft aber eher Putin als seine Umgebung. Putin hat jeden Sinn für das Leben um ihn herum verloren. Man kann zwar gewisse Pa"rallelen zur Stalin-Zeit ziehen, muss dabei aber vorsichtig sein: Stalin regierte in einer Ära echter Konflikte. Seine Paranoia wurde geschürt durch wirkliche Bedrohungen für die Sowjetunion. Heute ist dagegen die Elite hinter Putin voll integriert in die Welt außerhalb Russlands. Ihre Kinder gehen auf westliche Schulen, ihr Geld liegt auf westlichen Banken. Wenn es heute eine nennenswerte Bedrohung Russlands gibt, kommt sie nicht aus dem Westen, sondern aus dem Osten durch Chinas Aufstieg und aus dem Süden, wo der radikale Islam Anhänger gewinnt. Also spiegelt die gesamte antiamerikanische Propaganda Moskaus eigentlich Putins Verfolgungswahn wider.
Das Versammlungsrecht wurde eingeschränkt. Wer Geld aus dem Ausland erhält, gilt als Agent. Ist Russland auf dem Weg zur Tyrannei?
Kasparow: Hier muss man wieder vorsichtig sein. Putins Regime lässt sich nicht eins zu eins mit den klassischen Diktaturen gleichsetzen. Putins Sys"tem ist eher ein Mix aus Feudalismus und Mafia. Und in der Mafia gibt es eine Hauptregel: Du musst loyal sein gegenüber dem Paten. Zeigst du dich loyal, hast du freie Hand für jegliche Verbrechen. Der größte Unterschied zwischen Putins Regime und denen von Hitler, Stalin oder Mao ist, dass die klassischen Diktatoren ihre Eliten ausgelöscht haben. Sie nutzten den frei werdenden Platz, um eine Art sozialen Fahrstuhl in Gang zu setzen und eine neue, auf den Diktator eingeschworene Elite in die Ämter zu bringen. Putins Hauptproblem ist, dass man in einer Oligarchie die Elite nicht einfach auslöschen kann. Zudem ist Putins Elite zu sehr in der Welt vernetzt. Das, was wir nun sehen, ist eine potenzielle Verschiebung in Richtung einer klassischen Diktatur. Putin versucht, eine Art Wagenburgmentalität durchzusetzen: Russland rückt unter einer vermeintlichen Belagerung zusammen. Aber in diesem Punkt kommt Putin in Konflikt mit der Bürokratie, die immer Basis seiner Macht gewesen ist.
Stichwort Konflikt: Spielten Medwedew und Putin nur good guy gegen bad guy oder sind sie wirklich uneins darüber, ob Russland reformiert werden muss?
Kasparow: Ich bin überrascht, dass sie nach so vielen tiefsinnigen Fragen jetzt nach etwas von größter Unwichtigkeit fragen. Denn das Verhältnis von Putin und Medwedew ist das zwischen einem Mann und seinem Schatten. Medwedew war nur Teil des Projektes von Putin, die Illusion zu erzeugen, dass es zu einem Wandel in Russland kommt.
Widerlegen die Zehntausenden, die in Russland auf der Straße protestieren, das Bild vom allzu duldsamen russischen Volk? Kasparow: Ich glaube nicht, dass wir die Wurzeln von Diktaturen in der Genetik suchen müssen. Die Betonung der "russischen Seele" ist ein populärer Versuch, die Erfolgsaussichten einer Demokratisierung Russlands herunterzuspielen. Wir haben genug Beispiele in der Welt, die die Theorie vorgeblicher Nationalcharaktere widerlegen. Beginnend mit Deutschland, das zwei Diktaturen hinter sich ließ und zu einer Demokratie wurde. Noch beeindruckender für mich ist aber das koreanische Beispiel: Betrachtet man Nordkorea, denkt man, dass alle Koreaner dazu verurteilt sind, Sklaven zu sein. Wenige Kilometer südlich wird man durch Südkorea widerlegt, wo das selbe Volk eine sehr erfolgreiche Demokratie geschaffen hat. Das Gleiche gilt für China und Taiwan. Bei den Demonstrationen gegen Putin stehen Kommunis"ten, Nationalisten, Liberale und Anarchisten zusammen. Kann eine derart gespaltene Opposition Putin gefährden? Kasparow: Der gemeinsame Nenner der Opposition ist nicht nur, gegen Putin zu sein. In der Opposition gibt es vielmehr ein gemeinsames Verständnis da"rüber, dass Russland den politischen Wandel braucht. Und dieser Wandel schließt ein, dass sich die Regierung vor dem Volk verantworten muss. Einig ist sich die Opposition ebenfalls darüber, dass die extrem starke Machtposition des russischen Präsidenten gegen die Interessen des russischen Volkes gerichtet ist. Falls ein frei gewähltes Parlament die Zukunft Russlands bestimmen kann, wird die Struktur so aussehen, dass es neben einem starken Parlament einen schwachen Präsidenten geben wird -- ähnlich wie in Deutschland oder Polen. Findet Europa als wichtiger Handelspartner in Russland noch Gehör oder muss Europa schweigen, um Gas geliefert zu bekommen?
Kasparow: Es gibt keinen Zweifel darüber, dass Europa mit Russland klar kommen muss -- egal, wer im Kreml regiert. Das Problem ist nicht, dass Europa mit Russland normale Handelsbeziehungen unterhält -- wobei China als Handelspartner längst Russland den Rang abgelaufen hat. Das Problem ist nicht, dass Europa bisweilen schweigt oder indifferent agiert. Das Problem ist, dass europäische Politiker über Jahre Putin unterstützt haben und ihn mit demokratischen Weihen versahen. In diesem Land kennen Sie die Person -- und Sie lächeln bereits --, die noch heute für Putin arbeitet und dessen Botschaft in der Welt verbreitet. Ich glaube, der richtige Weg für Europa ist, keine unterschiedlichen Maßstäbe anzulegen. Wenn Putin agiert wie der weißrussische Diktator Lukaschenko, muss dies gesagt werden. Europa ist ein wichtiger Partner Russlands, ist zugleich abhängig von Russlands Gas. Aber ebenso ist Putin abhängig davon, dass Europa ihm das Gas abkauft. Letztlich gilt aber das russische Sprichwort: Die Tür zur Freiheit kann nur von innen aufgemacht werden.
Das Interview führte Joachim Zießler
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