Landeszeitung Lüneburg: Zu früh für Abgesang auf die USA
Amerikanistik-Professor Crister S. Garrett erwartet Annäherung der zerstrittenen Lager und wirtschaftlichen Aufschwung
Lüneburg (ots)
Vier weitere Jahre verschafften die Wähler US-Präsident Barack Obama. Kann er den lähmenden Kulturkampf mit den oppositionellen Republikanern befrieden? Können sich die USA gegenüber dem selbstbewusster werdenden Rivalen China, bei dem sie tief in der Kreide stehen, behaupten? Professor Crister S. Garret, der an der Uni Leipzig Amerikanistik lehrt, wagt einen Ausblick auf die Entwicklung in seinem Heimatland in den nächsten vier Jahren.
In seiner ersten Amtszeit scheiterte Barack Obama daran, die USA zu einen. Hat er diesmal eine Chance, den Kulturkampf zwischen den Lagern zu überwinden?
Prof. Crister S. Garrett: Es sieht heute in dieser Hinsicht besser aus als vor vier Jahren. Damals war die Lage trotz der Euphorie in den USA schwieriger, weil die Republikaner vor der Aufgabe standen, die Tea Party zu integrieren und ihre Oppositionsrolle zu finden. Nach den Ergebnissen vom Dienstag senden aber sowohl der US-Präsident als auch die Republikaner Signale, aufeinander zugehen zu wollen. Obwohl das Land nach wie vor sehr zerstritten ist, sind die Chancen, die Kluft zu überwinden, deutlich größer geworden.
Noch vor einem Jahr sah es so aus, als ob Barack Obama keine Chance auf eine Wiederwahl hätte. Was war entscheidend für sein Comeback?
Prof. Garrett: Die Wähler hatten zwei klar zu unterscheidende Optionen. Mitt Romney argumentierte, dass der Staat die amerikanische Gesellschaft und die Bürger einenge. Dagegegen hatte Barack Obama argumentiert, damit die Bürger überhaupt Zugang zum amerikanischen Traum bekommen können, muss der Staat eine Rolle spielen. Und bei dieser Wahl fanden die Bürger ein Konzept der Fairness und des Miteinanders überzeugender als eines, das den Staat zurückstutzen wollte und auf Individualismus setzte.
Wird Obama im Dezember erneut versuchen, die Republikaner zu umarmen oder wird er sie würgen, damit sie mit ihm das drohende fiscal cliff umschiffen?
Prof. Garrett: Wir hören von beiden Seiten versöhnliche Töne. Die Auswirkungen der fiskalischen Klippe - automatische Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen, falls die Politiker sich nicht einigen - sind so groß, dass ganz Washington diese Klippe umschiffen will. Obama hat klargemacht, dass er sich nicht von den Republikanern im Kongress erpressen lassen will, eine bloße, befristete Erhöhung der Verschuldungsobergrenze wird es mit ihm nicht noch mal geben. Ich erwarte einen Kompromiss.
Jobs, Dream-Act, Klimawandel - was wird Herzstück von Obamas zweiter Amtszeit?
Prof. Garrett: Im ersten Jahr wird der Fokus zunächst auf der Steuerpolitik liegen, dann auf dem Haushalt, anschließend auf der Einwanderungspolitik - also dem Dream-Act. Zwar war letzteres kaum ein Thema im Wahlkampf, weil es für Demokraten wie für Republikaner ein schwieriges Thema ist. Dennoch ist es zentral, weil die Republikaner gerade lernen mussten: Wollen sie wieder ins Weiße Haus, müssen sie eine neue Politik in der Mitte der Gesellschaft definieren. Als nächstes dürfte auf Barack Obamas Agenda die Ausbildungspolitik stehen, schließlich der Versuch, Amerika unabhängig von der Einfuhr von Energie zu machen. Eng damit verbunden ist die Umweltpolitik, die Förderung erneuerbarer Energien und der Abschluss globaler Vereinbarungen über Umweltschutzziele.
Die Wahl zeigte: Der demographische Wandel arbeitet gegen die Republikaner. Wie können sie attraktiver für die wichtiger werdende Gruppe der Latinos werden?
Prof. Garrett: Dies ist eine zentrale Herausforderung für die Partei. Dieses Mal hatten 75 Prozent der Latinos für Obama gestimmt, vor vier Jahren waren es rund 60 Prozent. Anders als Mitt Romney war George W. Bush durchaus erfolgreich in der Wählerschicht der Latinos. Progressiv zu sein, ist keine Erfolgsgarantie in dieser Gruppe, dazu sind die Latinos zu vielfältig: Viele kubanischstämmige Amerikaner sind eher sozialkonservativ. Das ergibt ebenso gemeinsame Schnittmengen mit den Republikanern wie die wirtschaftlich konservative Haltung vieler Mexikaner. Alle haben progressive Vorstellungen in der Ausbildung- wie der Einwanderungspolitik. Zwar können die Republikaner bei den Latinos durchaus punkten, aber dazu müssen sie sich den Einwanderern gegenüber offener positionieren.
Der Kongress bleibt gespalten. Bleibt auch die Lähmung?
Prof. Garrett: Die Republikaner sind derzeit in derselben Situation wie die Demokraten in den 80er-Jahren: Sie sind eine sehr zerstrittene Partei, der eine identifizierbare Linie bei ihrer Hauptbotschaft fehlt. Das heißt, die Republikaner müssen erst zu sich selbst finden. Bis dahin ist diese Partei gelähmt und die Gefahr hält an, dass sie ihre Lähmung in den Gesetzgebungsprozess trägt. Nach dieser Wahl wissen sie aber ganz genau, dass die überwiegende Zahl der Amerikaner von ihnen erwartet, dass der Kongress mit dem Präsidenten kooperiert. Der Druck auf die Führung der Partei im Repräsentantenhaus wächst, beweisen zu müssen, dass man den Präsidenten nicht nur blockieren, sondern auch mit ihm Probleme lösen kann. Ich erwarte daher große Fortschritte in der Steuer- und Haushaltspolitik innerhalb der nächsten 90 Tage.
Wird der Tea-Party-Flügel der Republikaner Mitt Romney zum Sündenbock machen, weil er die reine Lehre nicht verkörpert hat?
Prof. Garrett: Das könnte durchaus sein. Aber solche scharfen Töne können nicht überdecken, dass die Seele der Partei nicht von der Tea Party definiert wird. Es gibt viele weltoffene, moderate Republikaner, die bereit sind, eine Art Sozialstaat in den USA mitaufzubauen. Zwar hat die populistische Basisbewegung der Tea Party die Republikaner in der Wahlkampagne beflügelt, dafür aber in der Tagespolitik gelähmt. Auch die Tea-Party-Vertreter stehen unter Druck, ihre Regierungsfähigkeit beweisen zu müssen.
Droht den Republikanern eine Spaltung in einen nach rechts rückenden Flügel unter Paul Ryan und eine moderatere Partei?
Prof. Garrett: Das glaube ich eher nicht. Ich erwarte eher, dass die Republikaner auf dem rechten Flügel ihre Radikalität abbauen. Nicht mal George W. Bush war es beispielsweise gelungen, die Rentenpolitik völlig umzukrempeln - er wurde damals von seiner eigenen Partei zurückgepfiffen. Die Tea-Party-Protagonisten der Republikaner sind in der Pflicht, Wege zu finden, ihre Politik zu vertreten ohne die eigene Partei zu zersplittern.
Welche Optionen hat Obama, um die De-Industrialisierung Amerikas zu stoppen und Jobs zu schaffen?
Prof. Garrett: Die gute Botschaft für Barack Obama war, dass sich die Wirtschaft zwar langsam, aber stetig erholt. Dies geht nach den Prognosen so weiter und würde die Arbeitslosenzahlen weiter sinken lassen. In den USA spricht man zwar bereits von einer laufenden dritten Industriellen Revolution. Grüne Technologie kommt in den Staaten anders voran als in Deutschland, nämlich über Wagnis-Kapital-Projekte, die sich in bestimmten Bundesstaaten konzentrieren: Kalifornien, Ohio, Texas; New York und Florida sind Vorreiter bei der Rückkehr der Industriearbeitsplätze. Dennoch wird die Industrie nie dieselbe Rolle spielen wie in Deutschland, wo es 25-27 Prozent Industriearbeitsplätze gibt. In den USA liegt die Quote derzeit bei 13 Prozent. Läuft alles gut, liegt sie nach Obamas zweiter Amtszeit bei 17 Prozent. Dennoch bleiben die USA eine Dienstleistungsgesellschaft mit gut bezahlten Jobs für Ingenieure, Designer und ähnliche Berufe.
Europa spielte im Wahlkampf lediglich als sozialstaatliches Schreckgespenst eine Rolle. Rutscht der alte Kontinent unter den Aufmerksamkeitshorizont des pazifischen Präsidenten?
Prof. Garrett: In der Tat gab es im Wahlkampf ein paar plumpe Republikaner-Parolen zu Europa, mehr nicht. Das ist aber eher eine gute Nachricht, zeigt es doch, dass die Beziehungen zwischen den USA auf der einen sowie Deutschland und Europa auf der anderen Seite sehr stabil sind. Da existieren keine heiklen Themen. Gleichwohl verschieben sich mit dem Aufstieg Chinas und Indiens die amerikanischen Ressourcen Richtung Pazifik. Aber - das betont Obama immer wieder - Europa und Deutschland, das er vermutlich 2013 besuchen wird, bleiben zentrale Partner der USA für die Politik in der Region, aber auch für die Weltpolitik.
Marode Infrastruktur, eine bröckelnde ökonomische Basis, gefangen im Schuldenturm: Verabschieden sich die USA unter Obama endgültig von ihrem Weltmachtstatus?
Prof. Garrett: Sie haben recht, in der Infrastruktur, bei Straßen oder Versorgungsleitungen, liegt sehr vieles im Argen. Aber das ist auch eine Chance: Ich bin sicher, dass bis 2013 massiv in diesen Bereich investiert wird. Aber dies ist kein Punkt, der direkt und unmittelbar auf Amerikas Macht durchschlägt. Amerikas Weltmachtstatus speist sich daraus, dass es noch immer 20 Prozent der Weltwirtschaft repräsentiert, dass es global die mit Abstand größte Militärpräsenz aufweist und dass es politisch und kulturell großen Einfluss ausübt. In diesem Sinne bleiben die USA eine Weltmacht, auch wenn sich ihre Macht natürlich mit dem Aufstieg Chinas, Indiens und Brasiliens relativiert. Es ist zu früh, den Niedergang der USA herbeizureden. Erholt sich die Wirtschaft weiter, könnte sich die Erfahrung der späten 90er-Jahre wiederholen, als Amerika robuster und gestärkter aus der Rezession hervorging.
Unmittelbar nach der US-Wahl gibt sich China eine neue Führung, die vermutlich selbstbewusster auftrumpfen wird als die alte. Fördert die innere Zerrissenheit der USA isolationistische Bestrebungen?
Prof. Garrett: Zwar ist "Nationbuilding at home" für Obama ein großes Thema. Doch wirklich isolieren können sich die USA nicht, dazu ist die Wirtschaft viel zu sehr verzahnt mit der Welt. Zudem haben die USA zu viele Interessen und Verbündete weltweit, um sich auf ihren Kontinent zurückzuziehen. Gerade im heraufziehenden pazifischen Jahrhundert drängen Japan, Australien, Vietnam, Indonesion und Thailand auf mehr US-Präsenz in der Region. Amerika wird die mit dem Abzug aus Afghanistan freiwerdenden Ressourcen verstärkt im Innern einsetzen. Aber das wird nicht in eine freiwillige Selbstisolation münden.
Das Interview führte Joachim Zießler
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