Landeszeitung Lüneburg: "Die können nicht ruhig schlafen" - Interview mit dem Politologen Dr. Gero Neugebauer
Lüneburg (ots)
Haben die hohen Sympathiewerte und der Amtsbonus Annegret Kramp-Karrenbauer zu diesem deutlichen Sieg getragen oder das "Schreckgespenst" Rot-Rot?
Dr. Gero Neugebauer: Eher das Erste. Und wenn dann noch die politischen Werte - etwa Durchsetzungsfähigkeit, Vertrauens- und Glaubwürdigkeit - hoch sind, spielt der Kandidatenfaktor eine wichtige Rolle. Gut amtierende Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten haben es in den vergangenen Jahren immer wieder geschafft, auch unter widrigen Umständen Wahlen zu gewinnen. Ein gutes Beispiel ist Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz. Trotzdem wird ja immer wieder vermutet, Rot-Rot habe im Saarland eins auf die Nase bekommen. Aber die Sozialdemokraten haben dort ihre Position einigermaßen gehalten - wenn man bedenkt, dass die SPD als Juniorpartnerin in Großen Koalitionen oft erheblich abgestraft worden ist. Das Nachbarland Baden-Württemberg ist dafür ein Paradebeispiel. Die SPD hat im Saarland Stimmen aus dem Nichtwählerlager gewonnen, auch von der Linken. Rot-Rot konnte an der Saar nicht realisiert werden, weil die Linke zwei Sitze verloren hat. Die Entscheidung in Saarbrücken ist keine gegen Rot-Rot, sondern eine für Kramp-Karrenbauer und die Große Koalition.
Wer wird am 24. September von diesem Personenfaktor profitieren: Angela Merkel oder Martin Schulz?
Zurzeit ist die Stimmung in der Bevölkerung so, dass etwa 60 Prozent sagen: Wir wählen eine Partei wegen ihrer Problemlösungsfähigkeit. Der Rest entscheidet sich wegen einer Person oder nach Parteibindung. Es hat sich aber gezeigt, dass bei der Union schon 2013 der Kandidatenfaktor den Kompetenzfaktor überschritten hat. Damals allerdings nicht so deutlich wie jetzt bei Kramp-Karrenbauer. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Zustimmung für Merkel allgemein gesunken ist, ist es keineswegs sicher, dass sie im September eine "Personalwahl" nicht gewinnen könnte. Merkels Chancen hängen weniger vom "Schulz-Hype" ab als davon, dass sich die Situation in und um Deutschland in den Wochen vor der Wahl so entwickelt, dass die Deutschen mehrheitlich sagen: Uns ist dann doch eine routinierte Krisenbewältigerin lieber. Wenn man allerdings sagen kann: Trump ist jetzt in seinem Spielgitter, Putin hat in der Ukraine etwas lockergelassen, der Flüchtlingsstrom hat nachgelassen, die CSU will keinen Sonderweg mehr gehen, könnte Schulz eine akzeptable Alternative sein. Es gibt einfach zu viele Rahmenbedingungen, um sich jetzt schon festlegen zu können. Vor der Wahl im Saarland sah es zuletzt nach einem Kopf-an- Kopf-Rennen aus. Warum lagen die Demoskopen so sehr daneben? Weil die Demoskopen nicht in der Lage sind, reale Aussagen bei Vorwahlumfragen mit vielen Unentschiedenen zu machen. Zwei Wochen vor der Wahl waren 50 Prozent der Leute noch unentschieden, eine Woche später immer noch 30 Prozent. Sichere Aussagen darüber, ob die Befragten dann tatsächlich wählen gehen und für wen sie stimmen werden, sind da kaum möglich. Hinzu kommt, dass sich unentschlossene Wähler häufig so spät entscheiden, dass sie von den Umfragen gar nicht mehr erfasst werden. Warum haben diesmal die bürgerlichen Parteien von der erheblichen Mobilisierung von Nichtwählern profitiert und nicht die AfD? Die Vermutung ist, dass alte Reserven mobilisiert worden sind, also zum Beispiel viele CDU-Wähler, die 2012 zu Hause geblieben sind, weil das Ergebnis aus ihrer Sicht schon festzustehen schien. Das gilt mit einiger Wahrscheinlichkeit auch für die SPD. Wenn man sich ansieht, wo die SPD Stimmen hinzugewonnen hat, dann waren das genau die Wähler, die auf den "Schulz-Effekt" reagiert haben, insbesondere dessen Ankündigung größerer sozialer Gerechtigkeit und einer Besserbehandlung von Langzeitarbeitslosen beziehungs weise Hartz-IV-Beziehern.
Ist das vergleichsweise schlechte Ergebnis der AfD vor allem die Folge der Querelen zwischen Landes- und Bundesverband oder verliert die Partei an Bedeutung, weil das Flüchtlingsthema derzeit nicht mehr so im Vordergrund steht?
Nach meiner Einschätzung ist Ihre erste Einschätzung richtig. Der Landesverband an der Saar ist innerhalb dieser bunten Partei sehr spezifisch, besonders wegen seiner Verbindungen nach rechts und des seltsamen Geschäftsgebarens des Vorsitzenden. Aber er wird geschützt durch das Bundesschiedsgericht. Die AfD ist zurzeit sehr bemüht, sich von Gruppierungen zu distanzieren, die zu weit nach rechts neigen und deshalb das Ansehen der AfD in den sogenannten bürgerlich-konservativen Kreisen - die man als Wähler und als Geldgeber braucht - zu schädigen. Das ist beim Saar-Verband nicht gelungen. Die Saar-AfD hat ein bestimmtes Stigma und ist nicht typisch für die Partei. Deshalb würde ich nicht davon ausgehen, dass die 6,2 Prozent beispielhaft sein werden für das Ergebnis der Bundestagswahl. Da kann die AfD immer noch ein sattes einstelliges oder sogar ein zweistelliges Ergebnis erzielen. Aber da kommen dann wieder die oben genannten Umstände ins Spiel: Welche Rolle spielen dann noch Flüchtlinge, die Islamisierung, die Euro-Rettung?
Für die CDU war das ein Auftakt nach Maß ins Wahljahr. Angela Merkels innerparteiliche Kritiker dürften etwas leiser werden. Aber muss die Kanzlerin nicht beunruhigen, dass ihr - abgesehen von den Sozialdemokraten - die möglichen Koalitionspartner abhandengekommen? Wenn man sieht, wie knapp das Ergebnis war zwischen Rot-Rot und Schwarz, dann ist das eher ein Alarmzeichen. Es gibt keine Aussicht auf eine Mehrheit für die Union ohne einen Bündnispartner aus dem bürgerlichen Lager oder mit den Grünen. Polarisiert sich der Wahlkampf zwischen den beiden großen Parteien, werden die kleinen weniger bedient. Bei einem Trend zum Vierparteiensystem auf Bundesebene - mit Union, SPD, Linken und AfD - hätte die Union keine Alternative zur SPD. Die können nicht ruhig schlafen nach dem Ergebnis im Saarland. Eine der Strategien wird sein, sich auf die Person Merkel zu stützen: ruhige Hand, Besonnenheit, die kennt die Probleme, weiß sie zu lösen. Die zweite Strategie wird die Warnung vor den Roten in einer rot-rot-grünen Koalition sein.
Die Linke konnte aber selbst im "Oscar-Land" keine allzu große Anziehungskraft entfalten. Wird Martin Schulz jetzt nicht eher etwas abrücken vom Lagerwahlkampf und - ohne Rot-Rot-Grün gänzlich auszuschließen - eine Große Koalition mit der Union als Juniorpartner anstreben?
Wir haben in der Bundesrepublik ein System, in dem sich theoretisch jede Partei mit der anderen für koalitionsfähig hält. Auf der anderen Seite gibt es auch sogenannte Segmentierungen: Das heißt, die Union schließt die AfD und die Linke aus, die SPD schließt ebenfalls die AfD aus, die CSU will keinen Koalitionsvertrag, in dem nicht das Wort "Obergrenze" steht. Angela Merkel dagegen will als Alleinstellungsmerkmal ihrer Kanzlerschaft den humanitären Aspekt ihrer Politik betonen, verteidigt also die Grenzöffnung. Das wird sie sich auch nicht abkaufen lassen, denn sonst würde man sie reduzieren auf eine langweilig wirkende, aber konsistent arbeitende Krisenmanagerin mit Erfolgen, die sie als solide Politikerin erscheinen lassen. Theoretisch ist es denkbar, dass die CDU eine Koalition mit der SPD ohne die CSU macht. Wenn aber Schulz seinen Anspruch realisieren will, Kanzler zu werden, muss er die Union überflügeln oder eine rot-rot-grüne Mehrheit erreichen. Eine rot-rote Mehrheit wird es nicht geben.
Es gibt zwar seit Längerem Gesprächskreise von Politikern der SPD, Grünen und Linken. Aber haben SPD und Linke in der Nach-Schröder-Ära zu lange öffentlich aufeinander eingeprügelt, um jetzt eine glaubwürdige Partnerschaft anzustreben?
In der Tat fehlen zwei Dinge: Erstens gibt es innerhalb der Parteien selbst keine hinreichenden Diskussionen über die möglichen Bündnisse, die dazu geführt hätten, Vorurteile und persönliche Animositäten abzubauen. Der zweite Aspekt ist, dass es in der Linken immer noch Personen gibt, für die die Identität der Partei darin besteht, sich von der SPD abzugrenzen oder den Gegenpol zu bilden. Das konnte man auch im Saarland beobachten. Mit einer solchen Haltung kann man natürlich keine Koalition bilden. Vor einer Regierung unter Beteiligung der Linken muss man inzwischen keine Angst mehr haben. Aus Thüringen etwa kommen überhaupt keine Signale, dass das nicht funktionieren kann. Dennoch ist diese Abwehrhaltung in der westdeutschen politischen Kultur noch vorhanden. Und es gibt ja auch Landesverbände der Linken, etwa in Nordrhein-Westfalen, die sagen: Wir tun der SPD doch keinen Gefallen.
Fast 80 Prozent der Deutschen bewerten ihre wirtschaftliche Lage als gut oder sogar sehr gut. Noch nie hatten so viele Menschen Arbeit wie heute. Wird die Gerechtigkeitsdebatte als Wahlkampfthema von der SPD überschätzt?
Dieses Thema zielt nicht so sehr darauf ab, das gegenwärtige wirtschaftliche Schicksal einzelner verbessern zu wollen. Vielmehr geht es darum, den Menschen die Angst zu nehmen, dass es ihnen in der Zukunft schlechter gehen wird, dass sie etwa ihren sozialen Status verlieren oder dass Kinder oder Enkel keine Chance haben, aufzusteigen. Gibt es irgendetwas, das man aus der Wahl im kleinsten Flächenland der Republik ableiten kann im Hinblick auf die Urnengänge in Schleswig-Holstein und NRW oder für die Bundestagswahl?
Bei den kommenden Landtagswahlen könnte die Persönlichkeit der Spitzenkandidaten und deren Fähigkeit, Schwächen der Parteien zu kaschieren, eine größere Rolle spielen. Zweitens könnten Stimmungen eine größere Rolle spielen als Themen und Fakten. Drittens könnte es sein, dass die Auseinandersetzung zwischen den beiden großen Parteien die Stimmenreservoirs für die kleineren Parteien derart schmälern, dass sie kaum eine Chance haben, über die 5-Prozent-Hürde zu kommen - es sei denn, sie erklären ihre Alleinstellungsmerkmale so überzeugend, dass Wähler sagen: Ich will die wegen dieser oder jener Komponente unbedingt im Parlament haben. Wenn man etwas für die Bundestagswahl am 24. September ableiten will, muss man schon den Ausgang der Wahl in NRW am 14. Mai mit mehr als elf Millionen Wahlberechtigten abwarten.
Können Sie denn bereits eine Wechselstimmung im Land erkennen?
Es gibt leichte Anzeichen für eine Wechselstimmung in der Bewertung der Person Schulz gegenüber der Person Merkel. Und es gibt leichte Anzeichen für eine bessere Bewertung der SPD gegenüber der Union hinsichtlich der Regierungsarbeit. Aber mir reicht das noch nicht aus, um von einer Wechselstimmung zu sprechen.
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