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Landeszeitung Lüneburg: "Konfliktlösung kann man erlernen" - Interview mit dem Sozialpsychologen Prof. Dr. Andreas Zick

Lüneburg (ots)

Nach den Gewalttaten gegen viele Rettungskräfte in der Silvesternacht wurden härtere Strafen gefordert oder zumindest abschreckende Urteile. Reicht das?

Prof. Dr. Andreas Zick: Nein, das reicht in der Regel nie aus. Das wissen wir aus vielen Erfahrungen. Manchmal kann Abschreckung aber tatsächlich Wirkung erzeugen. Das belegt der Bereich Hate-Speach, als die ersten Urteile mit hohen Geldbußen für Hass-Reden im Internet ergingen. Aber da wir seit einigen Jahren eine Eskalation von Gewalt sehen, rate ich dringend dazu, über mehr als über Rechtsprechung nachzudenken. Rechtsprechung ist ultima ratio - und ist nie einfach oder eindeutig. Es wird Fälle geben, in denen Täter glimpflich davonkommen - etwa wenn Alkohol im Spiel ist. Was wir brauchen, ist ein massives Umdenken bei der Gewaltprävention. Dazu gehört auch eine bessere Dokumentation von Eskalationen. Bisher gibt es zu wenige verlässliche Daten und zu wenige Studien, die Eskalations-Szenarien nachzeichnen , damit wir sagen können, wo die Ursachen liegen. Diese Ursachen sind oft so komplex, dass die Verfolgung einer einzelnen Straftat nicht hinreichend ist. Hier geht es um viel mehr.

Ein wenig dokumentiert hat das Janina Lara Dressler in ihrer Doktorarbeit über Gewalt gegen Rettungskräfte.

Zick: Genau. Aber angesichts des Ausmaßes der Eskalation liegt doch auf der Hand, dass die Aufarbeitung und Dokumentation Sache der Nationalen Forschungsförderung sein müsste und nicht Aufgabe einer Doktorarbeit. Wir haben zwar Daten von Versicherungen und einzelnen Polizeien der Länder vorliegen. Aber das reicht nicht aus. Die wenigen Fälle, die gut dokumentiert sind, erlauben Analysen und neue Wege der Prävention. Nach den dramatischen Ereignissen der Kölner Silvesternacht 2016 hat die Uni Bielefeld zusammen mit der Kölner Polizei ein Deeskalationskonzept entwickelt und begleitet - mit Erfolg. Generell gilt: Man kann viel tun, aber dazu benötigt man auch genügend Kapazitäten. Und die sind leider immer noch nicht vorhanden. Sonst wäre die Lücke zwischen der Gewalt, die wir beobachten, und den Möglichkeiten, die die moderne Gewaltprävention bewirken kann, nicht so groß.

Frau Dressler hat ausgerechnet, dass es im Jahr 2014 allein in Hamburg 3,5 Übergriffe auf jede Rettungskraft gegeben hat. Gehen Sie von einer weiteren Zunahme aus?

Zick: Es gibt zwar auch eine höhere Anzeigebereitschaft, was einen Teil des Anstiegs erklären könnte. Aber insgesamt deutet alles darauf hin, dass wir weitere Anstiege haben, die nicht durch eine gestiegene Anzeigebereitschaft zurückgeführt werden können. Das belegen auch polizeiliche Statistiken über Körperverletzungen. Hier werden immer mehr Übergriffe auf Personen registriert, die für Sicherheit sorgen: Wachdienste, Rettungspersonal, Feuerwehr, Polizei. Übergriffe gibt es unter anderem auch im Bereich von Fußballspielen. Bei Ausschreitungen werden immer wieder Rettungskräfte mit hineingezogen. Bei einigen Gewalttätern gibt es einen deutlichen Respekt-Verlust. Sie nehmen Rettungskräfte nicht mehr als Rettungskräfte wahr, sondern als Leute, die ihnen im Weg stehen. Bei anderen werden die Rettungskräfte in Konflikte hineingezogen, geraten in die Schusslinie. Wir müssen genauer prüfen, inwieweit sich das Bild von Rettungskräften qualitativ verändert hat. Sicher ist, dass Retter und Polizisten heute anders wahrgenommen werden als noch vor zehn Jahren. Neben dem Respekt-Verlust werden Retter als Gegner wahrgenommen. Und als Spaßverderber, wenn sie anderen Bürgern - zum Beispiel bei Veranstaltungen - Wege versperren. Eigentlich sind Bürger einer Zivilgesellschaft gehalten, in Notfällen zu unterstützen, zu helfen. Doch in Teilen der Gesellschaft funktionieren solche Grundmuster nicht mehr. Hinzu kommt, dass im Bereich der medizinischen Versorgung die Idee eines Kunden- und Dienstleisterverhältnisses implementiert wurde. Auch das kann zu Missverständnissen führen.

Einer der betroffenen Retter hat gesagt: "Der Respekt ist verloren gegangen. Weil wir uniformiert sind, werden wir in die Ecke der Staatsgewalt und Behörden gerückt". Hat er recht?

Zick: Absolut. Gerade bei Großveranstaltungen wie Silvester oder Fußball packt man Sicherheit und Rettung in eine Kategorie. Die Uniformierung ist eine Gratwanderung. Retter werden als anonym wahrgenommen. Uniformierung führt dazu, dass Bürger sogar ihre Pflicht, minimale Hilfe zu leisten - wie den Weg frei zu machen für Retter - abgeben, auf die Retter übertragen nach dem Motto: Dafür sollen die selbst sorgen. Andere sind der Meinung, wenn sie für eine Veranstaltung bezahlen, tragen Sicherheitskräfte und Retter die alleinige Verantwortung. Sie sollen selbst für das Freihalten von Rettungswegen sorgen oder man nimmt an, das werde schon die Polizei regeln. Hier verschieben sich Normen. Hier verschiebt sich die Diskussion über Verantwortung in der Gesellschaft.

Brauchen wir eine Art Kulturwandel, wie ihn der Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery gefordert hat?

Zick: Ja, aber die Frage ist, ob wir diesen Wandel definieren können. Wir müssen über die Frage der zivilgesellschaftlichen Normen und Werte reden. Und über Kompetenzen. Wir haben heute andere Veranstaltungsformen, andere Events, die komplizierte Sicherheitskonzepte nötig machen. Dabei hilft es nicht, wenn wir nur sagen, Retter sind gute Menschen. Bei Notsituationen sollte es eigentlich nach einem Fünf-Stufen-Modell ablaufen: Erstens brauchen die Bürger Kompetenz in Notsituationen, damit sie überhaupt wieder wahrnehmen, dass sie selbst beteiligt sind. Zweitens müssen Situationen richtig interpretiert werden. Die dritte Stufe ist die Frage der individuellen Verantwortung. Viertens muss entschieden werden, was man selbst in einer Situation tun kann. Die fünfte und letzte Stufe ist dann das aktive Einschreiten, die Hilfe. Dem Problem der Gaffer lässt sich nicht nur mit höheren Strafen begegnen, sondern auch schon mit einfachen Maßnahmen. Die Polizei stellt an einigen Unfallstellen einen Sichtschutz auf, damit Gaffer keine Fotos mehr machen können. Das wirkt. Schnell und einfach.

Ist vielleicht auch die Art der Bestrafung falsch? Es gibt die Möglichkeit, im Sinne der Resozialisierung Täter zum Ableisten von Sozialstunden zu verurteilen. Würde es helfen, wenn man diejenigen, die Retter attackieren, in Uniformen steckt und als Beobachter zu Einsätzen schickt?

Zick: Das wäre eine richtig gute Maßnahme und würde dazu führen, dass darüber diskutiert und politisiert wird. Wir haben uns für Täter in anderen Bereichen individuelle Maßnahmen überlegt. Manche Täterinnen und Täter trifft es am härtesten, wenn sie den Führerschein entzogen bekommen.

Das ist ja seit Mitte 2017 möglich.

Zick: Man muss sich die Lebensumstände der Täter anschauen und überlegen, wo die empfindlichen Stellen sind. Ich halte das Rollenspiel für eine sehr gute Maßnahme, weil es die Empathie erhöhen kann. Ein Beispiel: Ein Fußballfan, der gewalttätig geworden ist, wird dazu verpflichtet, im Beisein von Sozialarbeitern Schülern zu berichten, warum sie einen anderen Menschen schwer verletzt haben. Das ist für den Täter eine peinliche Situation. Und hat positive Effekte. Wir müssen die Idee der Resozialisierung, die Idee, das Menschen umlernen können, endlich wieder ernster nehmen. Im Moment geben wir das Thema Sicherheit zu schnell ab. Überall werden Kameras aufgehängt. Man bekommt das Gefühl vermittelt, dass das System schon funktioniere. Ein gefährlicher Trugschluss.

Welche Rolle spielt denn der zunehmende Rechtspopulismus, zu dem auch die Abgrenzung von "denen da oben" gehört?

Zick: Der Rechtspopulismus, der stets härtere Strafen fordert für Fremde und Andere und so tut, als seien alle ihre Anhänger bessere Menschen, hat unseren Fokus sehr stark auf Ausländer-, auf Flüchtlings-Kriminalität gerichtet. Der Rechtspopulismus hat auch die Bereitschaft befördert, Institutionen in Zweifel zu ziehen - und zeichnet ein überbordendes Bild von einem Kontrollverlust des Staates, des Rechtsstaates. In rechten Online-Netzwerken werden eigene Kriminalitätsstatistiken geführt, die öffentlichen Statistiken hingegen angezweifelt. Wenn Menschen glauben, dass die Kontrolle verloren geht, ohne darüber nachzudenken, welchen Anteil sie selbst daran haben, ist das sehr bedenklich. Hinzu kommt eine immer aggressivere Sprache gegenüber Institutionen. All das trägt zu einem Verlust von Respekt bei. Die Gewaltbereitschaft und Billigung von Gewalt nimmt im rechten Bereich zu. Auch vorher unbescholtene Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte werden plötzlich straffällig, sehen Polizei und Rettungskräfte als Repräsentanten von Eliten und Staatsmacht. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Einige Menschen müssten sich endlich Gedanken machen über das Ausmaß ihrer Verantwortung an dieser Entwicklung. Aber noch sehe ich davon wenig bis nichts.

Senkt auch die Anonymität des Internets, die Anonymisierung von Meinungen, die Hemmschwelle?

Zick: Auch das Internet trägt zur Verschiebung von Normen und Werten bei, weil es keine ausreichenden Regulationsmechanismen gibt. Es muss mehr her als nur der Appell zu mehr Respekt. Wir müssen darüber nachdenken, wie man Rettungskräfte stärkt, wie man sie besser schützt. Wir müssen den Menschen Wege aufzeigen, wie man Konflikten begegnen kann. Ich halte daran fest, dass man Konfliktlösungen erlernen kann. Nur so wird es letztlich möglich sein, die Eskalation von Gewalt zu reduzieren. Das zeigen einige Bereiche, in denen es gut klappt, in denen aber auch viel in Deeskalationstaktiken investiert worden ist. Und genau diese Investitionen müssen auf alle Bereiche, in denen Gewalt eskaliert, ausgeweitet werden.

Zur Person:

Prof. Dr. Andreas Zick (Jahrgang 1962) ist ein bekannter Sozialpsychologe. Er leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und ist Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität Bielefeld. Seine Forschungsinteressen umfassen unter anderem die Schwerpunkte Vorurteile und Diskriminierung. Prof. Dr. Zick hat zahlreiche Schriften verfasst, Bücher geschrieben und ist ein auch bei TV-Sendern sehr gefragter Experte auf seinem Gebiet.

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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