Landeszeitung Lüneburg: Versuchsballon in Warteschleife Konstantin Kuhle, Generalsekretär der Landes-Liberalen betont: "FDP und Grüne sind keine natürlichen Feinde"
Lüneburg (ots)
Von Joachim Zießler
Lüneburg. Im Parlament ist der 29 Jahre alte Konstantin Kuhle noch ein liberaler Grünschnabel. Doch obwohl er erst seit 2017 für die FDP im Bundestag sitzt, hat sich der langjährige Vorsitzende der Jungen Liberalen nicht versteckt. Im Gegenteil. Vor zwei Tagen widersprach er Partei-Urgestein Wolfgang Kubicki, als der Angela Merkel eine Mitverantwortung für die Ausschreitungen in Chemnitz zuschob. Niemand werde wegen des vor genau drei Jahren gefallenen Spruches - "Wir schaffen das!" - zum Rassisten, befand der Generalsekretär der niedersächsischen FDP. Im März konterte er Roman Reusch von der AfD aus. Als der ehemalige Staatsanwalt das unbefristete Einsperren ausländischer Gefährder forderte, las ihm der liberale Anwalt die Leviten: Wer als Jurist Verfassungswidrigkeit ein "Totschlagargument" nenne, entlarve sich selbst als Verfassungsfeind, sagte Kuhle. Im Interview der Woche lehnt Kuhle die von der CDU angeregte allgemeine Dienstpflicht als "Sommerlochthema" ab und begrüßt die Annäherung der "Diskursparteien" FDP und Grüne. In dem Versuch seiner Partei, mit der Bewegung "En Marche" des französischen Präsidenten Emmanuel Macron eine Fraktionsgemeinschaft im Europäischen Parlament zu bilden, sieht er sogar eine "historische Chance".
Bereuen Sie die liberale Absage an Jamaika? Konstantin Kuhle: Nein. Wenn ich mir vorstelle, dass die gegenwärtige Diskussion über die Aufnahme oder Zurückweisung von Flüchtlingen zwischen CSU und Grünen geführt würden, wären die Konflikte vermutlich deutlich schärfer verlaufen. Hier wäre einer Jamaika-Koalition auf die Füße gefallen, dass in den Gesprächen manche Grundsatzentscheidungen umschifft wurden, beispielsweise die über den Familiennachzug. Eine Richtungsentscheidung war in diesen Sondierungsgesprächen nicht möglich. Die von der großen Koalition beschlossene Beschränkung des Familiennachzugs auf 1000 Personen im Monat bewerten wir kritisch, weil diese Beschränkung ohne klare Kriterien für die Behörden nicht umzusetzen ist. Zudem ist klar, dass es auch Monate geben kann, in denen mehr Menschen Zuflucht gewährt werden muss.
Derzeit profitieren die Grünen vom Jamaika-Aus, während die FDP stagniert. Nur eine Momentaufnahme? Ich habe immer höchsten Respekt davor, wenn politische Mitbewerber bei Umfragen und Wahlen reüssieren. Letztendlich ist es für die FDP ein großer Vertrauensvorschuss, wieder im Bundestag vertreten zu sein. Und die Umfragewerte liegen mit etwa zehn Prozent da, wo sie auch vor der Wahl lagen. Das ist in Ordnung. Ich denke aber schon, dass wir auf Bundes- wie auf Landesebene lernen müssen, dass Grüne und FDP keine natürlichen Feinde sind, sondern gute Kollegen und interessante Gesprächspartner sein müssen. Deswegen begrüße ich es sehr, dass auf Landesebene diskutiert wird, was es an möglichen gemeinsamen Projekten gibt. Auf Bundesebene haben wir das bereits mit der gemeinsamen Initiative zur Abschaffung des Kooperationsverbotes im Bildungssektor gemacht. Diese Verständigung bei einzelnen Projekten gab es vor den Jamaika-Gesprächen zu selten. Anderenfalls hätte es vielleicht funktioniert.
Ein natürlicher Feind schien für die FDP lange auch Emmanuel Macron zu sein - etwa wegen seiner Forderung eines eigenen Budgets für die Eurozone. Jetzt liebäugeln die Liberalen damit, mit En Marche eine gemeinsame Fraktion im Europaparlament zu bilden. Erliegt die FDP dem Charme des Franzosen? Die FDP muss die historische Chance nutzen, bei der Europawahl 2019 in eine Fraktion der Mitte mit "En Marche" aus Frankreich zu gehen. Es wäre eine Dummheit, diese Gelegenheit vorübergehen zu lassen. Liberaler als mit Macron wird es in Frankreich nicht. Er reformiert den öffentlichen Dienst, das Rentensystem, den Arbeitsmarkt und legt den Fokus auf den Bildungsbereich. Er verkörpert eine Kultur der Innovationsfreude, die ich mir auch in Deutschland wünschen würde. Das heißt nicht, dass man in einer Fraktionsgemeinschaft nicht auch mal anderer Meinung sein kann, etwa über die Notwendigkeit eines eigenen Eurozonen-Budgets. Aber angesichts der fortwährenden Angriffe Donald Trumps auf den Multilateralismus, angesichts des Brexits kann man es sich nicht erlauben, die ausgestreckte Hand der Franzosen nicht zu ergreifen.
Kann man von Macron auch Siegen lernen? Von der Art, mit einer neuen Bewegen die arrivierten Parteien auf die Plätze zu verweisen? Ich denke, das politische System Frankreichs unterscheidet sich dafür zu stark vom deutschen. In einer Präsidialdemokratie kommt es zwangsläufig zu einer starken Personalisierung - verstärkt noch durch das relativ schwache Parlament. Ich bin froh über den starken Parlamentarismus in Deutschland, würde mir bisweilen sogar einen stärkeren wünschen - etwa zur Stärkung der Rechte der Opposition im Niedersächsischen Landtag gegenüber der großen Koalition. Was man aber von Macron lernen kann, ist, dass man auch mit einer positiven Botschaft Wahlen gewinnen kann. Bis dahin galt die Aussage, dass man mit der Europa-Flagge auf seinen Wahlveranstaltungen und der Aussage, pro-europäisch zu sein, auf jeden Fall die Wahl verlieren wird. Macron hat damit gewonnen.
Ist es nicht eher bedrohlich, dass sich gewachsene Parteiensysteme in gestandenen Demokratien wie Frankreich und Österreich so schnell pulverisiert werden? Scheitert Macron an der Unreformierbarkeit Frankreichs, wartet Le Pen. Das bekümmert mich in der Tat sehr. Zugleich ist dieses Phänomen aber auch ein Auftrag, über reale Reformen nachzudenken. Macron ist mit seinen Reformen zum Erfolg verdammt. Deshalb sind in Deutschland Regierung und Opposition, also auch die FDP verpflichtet, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen. Tatsächlich erleben wir derzeit in vielen Ländern, wie der Respekt vor demokratischen Institutionen schwindet. Das liegt auch am Umgang von Politikern untereinander. Wochenlanger, lähmender Streit, an dessen Ende ein unpraktikabler Kompromiss steht - wie beim Familiennachzug - steigert den Unmut nur weiter.
Sie selbst haben als Zivildienstleistender gedient. Warum lehnen Sie eine allgemeine Dienstpflicht ab, obwohl Umfragen dafür Mehrheiten suggerieren? Ich selbst habe meinen Zivildienst beim Roten Kreuz abgeleistet, zum Teil in der Altenbetreuung. Das war eine bereichernde Erfahrung in der Findungsphase nach der Schule. Ich glaube aber, dass jeder junge Mensch eine solche Entscheidung über einen Dienst an der Gesellschaft freiwillig treffen sollte. Mit dem Bundesfreiwilligendienst haben wir ein Instrument geschaffen, das Männer und Frauen nutzen können. Die aktuellen Bufdi-Zahlen sind vergleichbar mit denen des ehemaligen Zivildienstes. Dazu kommen die Möglichkeiten, ein freiwilliges soziales Jahr oder einen freiwilligen Wehrdienst anzutreten. Diese Vielfalt charakterisiert unsere Gesellschaft. Deshalb geht für die FDP Freiwilligkeit vor Zwang. Damit junge Menschen ein entsprechendes Verantwortungsgefühl entwickeln können, sollte in der Schule mehr darüber gesprochen werden, was einem persönlich ein Jahr Dienst an der Gesellschaft bringt. Denkbar wäre auch, anschließend einen Bonus bei der Studienplatzvergabe oder einen zusätzlichen Rentenpunkt zu gewähren. Die Wehrpflicht zu propagieren, nachdem man gerade die Kreiswehrersatzämter abgewickelt hat, ist hingegen eine Idee für die Sommerpause.
Wäre eine Dienstpflicht nicht dennoch eine gute Antwort auf eine zerfallene Gesellschaft, in der sowohl im Hartz-IV-Ghetto als auch hinter den Mauern um Villen in Parallelgesellschaften gelebt wird? Wir müssen in dieser Gesellschaft einen verstärkten Austausch zwischen den Milieus organisieren. Wenn Durchlässigkeit nur auf dem Papier besteht, leidet auf Dauer unser demokratisches Gemeinwesen. Der Austausch zwischen den sozialen Schichten muss aber über das Bildungssystem erfolgen. Dazu bedarf es einer neuen Wertschätzung für die berufliche Bildung abseits akademischer Grade. Ich glaube aber nicht, dass die Bundeswehr, die Pflege oder die Betreuung von Behinderten Reparaturbereiche für anders gelagerte gesellschaftliche Probleme sein können. Dazu ist die Spezialisierung in diesen Bereichen mittlerweile viel zu weit fortgeschritten. Junge Menschen in diese Dienste zu pressen, um Probleme an anderer Stelle zu beheben, ist nicht mehr zeitgemäß.
Trotz des Attributes "nicht mehr zeitgemäß" starte ich noch einen Vorstoß: Ist eine Bringschuld gegenüber der Staatsform angesichts zunehmender Demokratiegleichgültigkeit oder sogar -feindlichkeit nicht sogar eine sehr aktuelle Idee? Es ist tatsächlich ein Dilemma, dass ausgerechnet jene Generationen, die das Entstehen demokratischer Strukturen nicht mehr erlebt haben, sich von den demokratischen Strukturen entfernen. Die Errungenschaften der Demokratie - Frieden und Wohlstand - führen dazu, dass die Jüngeren das Alternativmodell dazu nicht mehr erlebt haben. Ich glaube aber nicht, dass junge Menschen Gewalt- oder Hungererfahrungen gemacht haben müssen, um gute Demokraten zu sein. Sie sollten aber Erfahrungen mit offener Diskussion gemacht haben. Und in diesem Punkt gibt es in den Schulen eine allzu große Reserviertheit. Ich würde mir wünschen, dass es vor jeder Wahl in allen Bildungseinrichtungen Podiumsdiskussionen mit Vertretern der politischen Parteien gibt. Bisher wird die Schule zumeist gegen politische Diskussionen abgeschottet. Diese falsch verstandene Neutralität macht keinen Sinn in einem Bundesland wie Niedersachsen, in dem man mit 16 Jahren bei Kommunalwahlen und mit 18 den nächsten Bundestag wählen darf. Dazu passt, dass die jüngste Shell-Jugendstudie ein Ansteigen des politischen Interesses feststellt.
Eingangs sagten Sie, dass FDP und Grüne keine natürlichen Feinde seien. Noch konsequenter als Christian Lindner gegenüber Jamaika haben sich allerdings Niedersachsens Liberale nach der Landtagswahl einer Ampel-Koalition verweigert. Haben Sie mittlerweile eingesehen, dass angesichts schwächelnder Volksparteien Zweier-Konstellationen unrealistisch sind? Es ist immer richtig, nach der Wahl zu tun, was man vorher angekündigt hat. Insofern war die damalige Entscheidung richtig. Allerdings erleben wir derzeit, wie die politischen Ränder erstarken - einerseits durch die Linke, aber besonders herausfordernd durch den Aufstieg der AfD am rechten Rand. Wenn man aber Koalitionen mit den Parteien an den Flügeln aus voller Überzeugung ablehnt, wie die FDP, ist es eine Frage der Verantwortung für das Land, Konstellationen unter Einschluss zweier diskursorientierter Parteien, wie es Grüne und FDP sind, auszuloten. Wir müssen miteinander reden, damit sich das Auseinanderdriften der sozialen Milieus nicht unter den Parteien fortsetzt.
Zur Person:
Konstantin Kuhle (29) ist seit dem April Generalsekretär der niedersächsischen FDP. Er ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages, sitzt im EU- und im Innenausschuss. Der gebürtige Wolfenbüttler ist Rechtsanwalt und vier Jahre von 2014 an Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen.
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