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Landeszeitung Lüneburg: Die Wette gegen die Erde Mathis Wackernagel, Schöpfer des "ökologischen Fußabdrucks", drängt darauf, die Natur nicht weiter zu übernutzen

Lüneburg (ots)

Von Joachim Zießler

Für dieses Jahr haben wir die weltweiten Ressourcen der Natur seit dem 29. Juli bereits aufgebraucht - so früh wie noch nie. Machen wir uns noch zu wenig Sorgen? Mathis Wackernagel: Ja.

Den freitags demonstrierenden Schülern stehen Politiker wie Trump und Bolsonaro entgegen, die Verantwortungslosigkeit zum Programm erheben. Steht die Jugend auf verlorenem Posten? Solange die jetzt Entscheidenden nicht umdenken und umschwenken - ja. Die eigentliche Frage lautet doch: Wollen wir langfristig erfolgreich sein? Und so wie die Häuser eines Architekten länger stehen, der die Schwerkraft versteht, wird auch die Volkswirtschaft derer langfristig erfolgreich sein, die die Ressourcenrealität verstehen. Es gilt schlicht, unsere Ressourcenabhängigkeit und unsere physikalische Existenz anzuerkennen. Und dies trifft nicht nur für die Regierungen, Manager und Investoren zu, sondern auch für die Lehre. Wirtschaftsstudenten werden immer noch Theorien gepredigt, die physikfremd sind. Es werden Konzepte entworfen, als ob die Erde unendlich groß sei; die Natur unendlich und unermüdlich darin wäre, die Menschen mit allen materiellen Notwendigkeiten zu versorgen. Tatsächlich ist die Wirtschaft aber nur ein Teilsystem der Biosphäre.

Wie vermessen Sie die physikalische Abhängigkeit der Wirtschaft? Mit einer simplen Ressourcenbuchhaltung, die auf dem ökologischen Fußabdruck aufbaut. Wie groß der Fußabdruck eines Menschen ist, hängt davon ab, wie viel Natur er braucht, wie er sich kleidet, isst, wohnt, sich fortbewegt, und welche Energie er braucht. Wir nutzen 15 000 Datenpunkte pro Land und Jahr, alle von UN-Statistiken, um diese Bedürfnisse zu addieren und auf die Fläche umzurechnen, die es braucht, um all diese materiellen Nachfragen zu erneuern. Im Moment nutzen wir die Natur weltweit 75 Prozent schneller, als sie sich regenerieren kann.

In welchen Bereichen ist der Fußabdruck des Menschen am verheerendsten? Heute ist 60 Prozent des ökologischen Fußabdrucks der "carbon footprint". Das entspricht der Fläche, die notwendig ist, um das freiwerdende Kohlendioxid von genutzter Fossilenergie wieder zu absorbieren. Vor 200 Jahren war der "carbon footprint" null. Seit dem Pariser Klimaabkommen ist klar, dass wir spätestens schon vor 2050 aus der Fossilenergie-Industrie ausgestiegen sein müssen, wenn wir das Zwei-Grad-Celsius -Ziel erreichen wollen. Die Nutzung fossiler Energie braucht viel Natur, oder genauer Biokapazität. Derzeit nehmen vor allem die Ozeane einen Großteil des überschüssigen CO₂ auf. Für den Rest braucht es Waldflächen. Ein Hektar Wald vermag jährlich etwa die Menge des Treibhausgases aufzunehmen, die bei der Verbrennung von 1500 Litern Öl freigesetzt wird. Zählt man nun alle menschlichen Nachfragen nach Natur zusammen, und vergleicht das mit dem, was die Erde erneuern kann, dann haben wir dieses Jahr bereits am 29.7. unseren Jahreskredit aufgebraucht - das war der Erdüberlastungstag. Das bedeutet, wir bräuchten derzeit 1,75 Erden. Die Abhängigkeit von fossiler Energie ist enorm. In den USA werden 6 Kalorien fossiler Energie verbraucht, um 1 Kalorie Nahrung herzustellen. Oder bei Bekleidungsfasern: Noch in den 60er-Jahren waren 97 Prozent der Fasern biologisch, heute sind es noch 30 Prozent.

Gibt uns die Natur noch bis 2050 Kredit? Es ist Fluch und Segen der Natur, dass sie so großzügig ist. Deshalb nimmt sie den Raubbau sehr lange hin, ohne den Menschen genügend Feedback zu geben. Und deshalb reagieren wir Menschen zu spät. 2050 ist keine Schwarz-weiß-Frage. Die Situation ist grau: Bei steigenden Temperaturen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Biokapazität der Erde abnimmt. Entscheiden wir uns langsamer, auf eine regenerative Wirtschaft umzusteigen, haben wir am Ende ein kleineres Ressourcenbudget zur Verfügung. Treffen wir die Entscheidung schneller, mag es uns kurzfristig stärker schmerzen, dafür bleibt uns am Ende mehr von den lebensnotwendigen Ressourcen.

Würden alle Erdenbürger so wie die Deutschen Ressourcen verbrauchen, bräuchten wir drei Erden. Haben die Industrienationen auch wegen der Sünden der Vergangenheit eine besondere Verantwortung, eine Vorreiterrolle einzunehmen? Sicher könnte man so moralisch argumentieren. Produktiver aber erscheint mir zu sein, zu fragen: Was müssen wir tun, um selbst erfolgreich zu sein? Was muss Deutschland tun, Frankfurt, Münster, oder der einzelne Hauseigentümer? Und diese Frage steht in dem Kontext, dass es lediglich eine Erde gibt. Derzeit sehen wir am Horizont einen heraufziehenden Sturm. Und wir sitzen in einem Boot. Was wäre der Vorteil, zu sagen, wir sind das kleine Boot Deutschland, was können wir schon tun? Was ist der Vorteil, das Boot erst dann sturmfest machen zu wollen, wenn der Nachbar damit beginnt? Es wäre eine schräge Einstellung zu einem offensichtlichen Risiko, wenn man Warten für eine gute Strategie halten würde. Länder, die sich nicht gut auf eine regenerative Zukunft vorbereiten, schneiden sich ins eigene Fleisch.

Gibt es Nationen, die schon vorbildlich ihr Boot flicken? Deutschland startete zwar gut mit seiner Energiewende, setzt die aber viel zu langsam um, und will vor allem auch noch die Kohlekraftwerke am Netz lassen. In Costa Rica hat der Klimaschutz und der Ausstieg aus der CO₂-Produktion nahezu Staatsrang. Schottland steigt im Verhältnis zum restlichen Großbritannien sehr viel ambitionierter aus. Doch trotz dieser Vorbilder ist bemerkenswert, wie hartnäckig die Welt an unvernünftigem Verhalten festhält. Beim Weltwirtschaftsforum von Davos identifizierten die Wirtschaftslenker unter den zehn größten Risiken für die Weltwirtschaft sechs aus dem Bereich Umwelt, Ressourcen oder Klimawandel. Aber beim Wettbewerbsfähigkeits-Report ist kein einziger Indikator ressourcenbezogen, weil immer noch der Irrglaube besteht, dass es einen Konflikt zwischen Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit gibt. Das ist absurd, weil beide Begriffe dicht beieinander liegen. Ein Land, das langfristig wirtschaftlich erfolgreich sein will, muss nachhaltig agieren. Aber Finanzministerien sehen Nachhaltigkeit noch immer lediglich als Kostenpunkt. In den Regierungen Frankreichs und Spaniens heißen die Umweltressorts Ministerien der ökologischen Transition, also des Umbaus. Mir wäre es lieber, wenn die Finanzministerien so benannt würden.

Was steht neben dem Ausstieg aus der Kohlenstoffindustrie noch ganz oben auf der staatlichen Agenda? Wir haben dafür die Fünf-Finger-Regel entwickelt. Der Daumen steht für den Erhalt des Angebots, etwa der Böden, des Wassers und der Luft. Die vier restlichen Finger stehen für die großen Nachfrage-Faktoren: Erstens, wie funktionieren Städte? Von ihm hängt ab, wieviel Ressourcen wir beim Leben verbrauchen, wie mobil wir sind, wie viel Energie wir verbrauchen. Das Zweite ist die Energieproduktion - Kohle und Öl oder Windkraft und Sonne? Das Dritte ist die Frage, wie wir essen. Knapp die Hälfte der Biokapazität der Welt wird bereits von der Nahrungsproduktion beansprucht. Der vierte Faktor hat kurzfristig zwar wenig Einfluss auf die Nachfrage, aber langfristig einen enormen: die Frage, wie viel Menschen wir sein werden. Hätte die Welt die Reproduktionsraten von Spanien, Portugal oder Italien würden wir am Ende des 21. Jahrhunderts vier Milliarden Menschen sein. Die mittlere Projektion der UNO rechnet mit 11,6 Milliarden. Das wäre also drei Mal weniger Biokapazität pro Person.

Muss Raubbau viel teurer werden - auch für den Normalbürger, der am Flughafen eincheckt? Die Flugsteuer-Diskussion derzeit in Deutschland könnte einen negativen Effekt haben, weil Klimaschutz so zu einer Geschichte des Verzichts, der Kosten und des Opferns wird. Besser wäre, nicht mehr die Zerstörung zu subventionieren, indem wir den Flugverkehr staatlich alimentieren. Hier könnte der Staat Geld sparen. Die Zerstörung des Raumschiffs, in dem wir leben, auch Erde genannt, ist der teuerste Weg, nicht dessen Rettung.

1987 war der Welterschöpfungstag erst am 19. Dezember erreicht. Ist unsere Lernfähigkeit zu gering, um noch eine Umkehr hinzukriegen? Gewisse Sparten sind sehr langsam. So die immer noch an Universitäten vermittelten Wirtschaftsmodelle, die noch als quasi unantastbar gelten, obwohl sie die biologische Welt ausblenden und davon ausgehen, dass sich alles unendlich ausdehnen könnte und es kein limitierendes Budget gäbe. Die derzeitige enorme Übernutzung wird von den Wirtschaftstheorien nicht gesehen. Laut Weltbank stellt die Erde lediglich neun Prozent der Werte dar, die insgesamt von Menschen geschaffen wurden. Die meinen das ernst, doch da müsste man doch einfach lachen. Wie kann das sein? Wir sind nur ein Teil des Planeten. Es geht um eine Wette. Wenn Sie Wetten gewinnen wollen, hilft es, realistischer informiert zu sein. Gewinn, der erzielt wird, indem die Erde übernutzt wird, ist nur kurzfristig möglich und kann kein erfolgreiches Wirtschaftsmodell sein. Die Wahrscheinlichkeit, als Unternehmen langfristig wesentlich zu sein, ist höher, wenn dieses die physikalische Realität berücksichtigt und sie nicht als bloßen Kostenfaktor verunglimpft.

Zur Person

Dr. Mathis Wackernagel (57) ist Gründer des Global Footprint Networks und ein Vordenker für Nachhaltigkeit. Vor 20 Jahren entwickelte er das Konzept des ökologischen Fussabdrucks. Wackernagel ist in Basel aufgewachsen und studierte an der ETH Zürich Ingenieurwesen. Er lebt mit Frau und Kind inOakland, Kalifornien, wo er die Nachhaltigkeitsorganisation Global Footprint Network leitet. Mehr zum Welterschöpfungstag und zu Ländervergleichen unter: www.overshootday.org und http://data.footprintnetwork.org

Pressekontakt:

Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de

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