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Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR: Diskussionskultur in Deutschland Dissensdemokratie CARSTEN HEIL

Bielefeld (ots)

Die Proteste werden lauter, der Ton rauer. Überall, wo in Deutschland unterschiedliche Interessen aufeinander stoßen, scheint schnell blanker Zorn, fast Hass zu entstehen. Alle Seiten greifen zu radikalen Formulierungen, hören der anderen Seite nicht zu, sondern beschimpfen sie. Schwarz-Weiß-Denken ist angesagt, nicht Informieren, Differenzieren und Abwägen. Niemand ist mehr in der Lage oder bereit, sich in die andere Perspektive zumindest hineinzuversetzen. Das hieße ja nicht, sie gleich zu übernehmen. Es fehlt schlicht der Respekt davor, dass ein anderer Mensch auch andere Positionen und Interessen hat. Das gilt für die Debatte um den Bahnhof Stuttgart 21 genauso wie für die Integrationsdebatte, den Umgang mit Langzeitarbeitslosen, den Streit um die Castortransporte und die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke und das Bild der Politiker in der Öffentlichkeit. Mit welch menschenverachtenden Worten auf Politiker ("die da oben") eingedroschen wird, ist erschreckend. Leserbriefe, die auch die Redaktion dieser Zeitung täglich erreichen, können kaum veröffentlicht werden, weil sie außer Politiker-Beschimpfungen kaum etwas bieten. Damit kein Missverständnis aufkommt: Natürlich gibt es Situationen, Prozesse und Beschlüsse, die kritikwürdig sind. Es gibt das gute Recht der Bürgerinnen und Bürger, gegen Stuttgart 21 zu sein oder gegen Castortransporte. Man kann auch mit der Integrationspolitik unzufrieden sein. In einer Demokratie gehört die kontroverse, anstrengende Diskussion dazu. Aber in der Auseinandersetzung zum Beispiel um die Ausstattung von Arbeitslosengeld II ist es wenig hilfreich, den Empfängern pauschal vorzuwerfen, sie seien Drückeberger, noch den Politikern, sie selbst seien als Raffkes ja gut versorgt und gingen kalt über die Ärmsten der Armen hinweg. Die große Mehrheit der Politiker in allen Parlamenten, angefangen im Gemeinderat, hat das beste im Sinn. Die meisten Arbeitslosen wünschen sich nichts mehr, als wieder ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu können. Ausnahmen gibt es auf allen Seiten. Misstrauen führt in diese Dissensdemokratie. Wenn einmal nach langen Mühen im Konsens beschlossene Dinge plötzlich aufgrund neuer Einzelinteressen wieder aufgemacht werden, geht Vertrauen verloren. Das gilt für die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke wie für den Bau der neuen Startbahn am Frankfurter Flughafen. Dort kippte die Landesregierung unter Roland Koch das in einem Vermittlungsverfahren mit den Anliegern zuvor vereinbarte Nachtflugverbot. Misstrauen auf allen Seiten führt auch dazu, dass Integration nicht gelingt, sondern auf dem Niveau von Thilo Sarrazin geführt wird. Der gleichwohl aber auch zu recht auf einige Probleme bei dem Thema hingewiesen hat. Frühzeitiges, ernsthaftes Beteiligen der Bürger an strittigen Vorhaben, Verlässlichkeit der Beschlüsse, in Kauf nehmen eigener Nachteile auf allen Seiten zum Vorteil des Ganzen sind dagegen das Wesen der Konsensdemokratie. Sie hat Deutschland stark gemacht.

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