Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Aufruhr in der islamischen Welt Wir beobachten Geschichte CARSTEN HEIL
Bielefeld (ots)
Zeitenwende: Die Menschen der arabischen Welt schwingen sich auf, neue gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen. Ob sie dabei erfolgreich sind, ist heute noch nicht vorherzusagen. Selbst in Tunesien, wo sich der Diktator vor dem Volkszorn außer Landes geflüchtet hat und der nun mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, ist nicht klar, ob das alte Regime wirklich am Ende ist. In vielen anderen arabisch-islamischen Staaten erheben sich die Massen ebenfalls oder es herrschen zumindest unsichere politische Situationen. So unterschiedlich die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die politische Systeme und gesellschaftlichen Bedingungen in der Arabischen Welt auch sind, es bestehen Parallelen. Über Jahrhunderte und noch bis heute war und ist die arabisch-islamische Welt geprägt vom Stammesdenken. Das Zugehörigkeitsgefühl und Loyalität der Menschen zwischen Marokko und Saudi-Arabien gehörte nie einer Zentralmacht, schon gar nicht einem Nationalstaat, wie es in Europa bis weit ins 20. Jahrhundert der Fall war und sogar heute noch üblich ist. Das bedeutet: Die Gesellschaften waren zersplittert und dementsprechend schwach. Darunter leidet die islamische Welt noch heute. Denn diese Zersplitterung wurde später durch Entwicklung und Erkenntnis nicht beseitigt, sondern durch Zwang und Druck nur verdrängt, überspielt. Weil es in der Geschichte zeitweise auch die Europäer waren, die diesen Zwang ausübten und eine schlechte Rolle spielten, haben sie es heute schwer, in der beginnenden Umbruchphase als Partner mäßigend auf die Lage einzuwirken. Ihre Zusammenarbeit mit den korrupten Regimen in jüngster Vergangenheit macht sie den normalen Menschen zusätzlich verdächtig. Moderne Technik wie Internet, Facebook und Twitter ermöglichen es nun einer zunehmend gebildeteren Schicht, sich auszutauschen und abzustimmen. Das heißt, diese Schichten in den großen Städten sind dabei, das jahrhundertealte, stammesorientierte Denken zu überwinden. Eine mögliche These ist: Der Mittelstand im Nahen Osten ist dabei, eine Art "Aufklärung" zu organisieren, die in Europa mit Immanuel Kant und Voltaire im 18. Jahrhundert begann. Sie ist nicht mehr bereit, sich der Obrigkeit zu beugen, will ihre Unmündigkeit beenden. Darunter liegen - wie so oft bei Zeitenwenden - als Teppich die teils katastrophale wirtschaftliche Lage und die extremen sozialen Unterschiede in den betroffenen Ländern. Während die Oberschicht in Saus und Braus lebt, können kleine Arbeiter, Bauern und Beamte ihre Familien nicht ernähren. Diese Not macht rücksichtslos und risikobereit. Wohin das führt, weiß niemand. Im besten Fall in demokratische Verhältnisse, die jedoch ihrerseits die Gefahr des Rückfalles in radikale Systeme beinhalten. In Algerien wären bei Wahlen - die dann schnell anulliert wurden - in den 90er Jahren beinahe Islamisten an die Macht gekommen. Nur eines ist sicher: Wir beobachten Geschichte.
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