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Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Jahrestag 9/11 Verlorenes Jahrzehnt THOMAS SPANG, WASHINGTON

Bielefeld (ots)

Wir waren alle dabei, als vor zehn Jahren die Schergen Osama bin Ladens einen strahlend blauen Septembertag in einen apokalyptischen Albtraum verwandelten. Jedenfalls kommt es uns so vor, weil wir uns genau erinnern können, wo wir vom Einsturz der Zwillingstürme des World Trade Center erfuhren. Um die mehr als 3.000 unschuldigen Toten trauern wir wie um gute Nachbarn. Unsere Sympathie mit den Opfern des 11. September ist so universal wie die Abscheu über die Motive der Drahtzieher - Terroristen, denen nicht einmal ihre eigene Religion heilig war. El Kaida verkehrte das Potential der Globalisierung in sein Gegenteil. Ihrem Terror wohnt nicht ein emanzipatorischer Funke inne. Nichts gibt es, was ihre sinnlose Gewalt nur im Entferntesten rechtfertigen könnte. Vielmehr handelte es sich um einen nihilistischen Wutausstoß privilegierter Schnösel, der außer Tod und Zerstörung nichts erreichte. Die sterblichen Überreste des Terrorfürsten liegen im Arabischen Meer. Seine Organisation ist dezimiert und ideologisch am Ende. Ignoriert von den Massen in Tunesien, Ägypten und Libyen, die im "arabischen Frühling" ihre Diktatoren nicht mit den Parolen El Kaidas, sondern dem Ruf nach Gerechtigkeit stürzten. Zehn Jahre nach dem 11. September 2001 haben die Terroristen verloren. Was umgekehrt nicht bedeutet, dass wir gewonnen haben. Vielmehr blicken wir auf eine Dekade verpasster Chancen zurück. Verschenkte Jahre, die mit falschen Weichenstellungen begannen. Statt die enorme Hilfsbereitschaft, echte Selbstlosigkeit und den neuen Gemeinschaftsgeist zu nutzen, Amerika und die Welt zusammenzubringen, polarisierte der damalige US-Präsident George W. Bush wie keiner seiner Vorgänger. Für das globale "Wir"-Gefühl gab es in seiner Politik der Alleingänge keinen Platz. Es verschwand. Der neokonservative Instinkt des Präsidenten beschleunigte die Entstehung einer multipolaren Ordnung, in der Washington Einfluss verlor und die Volksrepublik China zur Weltmacht aufstieg. Dass die USA zehn Jahre nach dem 11. September kurz davorstanden, Bankrott anzumelden, hat nichts mit dem Genie Bin Ladens zu tun, der davon besessen war, die Supermacht in die Knie zu zwingen. Umso mehr mit der Polarisierung einer Gesellschaft, die bis heute unter Nachwirkungen unverantwortlicher Steuerausgaben, auf Pump finanzierter Kriege und kopfloser Deregulierung leidet. Mit der Wahl des "amerikanischen Weltbürgers" Barack Obama versuchten die USA eine Selbstkorrektur, die nur teilweise glückte. Immerhin verknüpfte Obama den amerikanischen Traum wieder mit dem "Wir"-Gefühl, das von vielen Einwohnern des globalen Dorfs geteilt wird. Während am zehnten Jahrestag am Ground Zero neue Wolkenkratzer aus der klaffenden Wunde in den Himmel wachsen, kommt die Supermacht nicht auf die Beine. Geschwächt nicht durch Bin Laden, sondern das schwere Erbe einer überforderten politischen Führung, die den 11. September nicht zu deuten verstand. Das ist neben dem sinnlosen Sterben die eigentliche Tragik des verlorenen Jahrzehnts.

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