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Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar Umbruch in Europa Schicksalstage eines Kontinents THOMAS SEIM

Bielefeld (ots)

Nun haben Franzosen und Griechen gewählt - und Europa kann nicht mehr weitermachen wie bisher. Ganz gleich, ob man wie die Kanzlerin jegliche Politik-Veränderungen rundheraus ablehnt oder nicht: Mit den politischen Veränderungen in Griechenland und Frankreich steht das europäische Projekt vor einer großen Herausforderung, der größten seiner Geschichte. Nichts ist mehr sicher: weder der Fiskalpakt noch der Euro noch der Zusammenhalt der EU. Merkels neuer kategorischer Imperativ lautet "Der Fiskalpakt steht nicht zur Disposition". Wenn die deutsche Bundeskanzlerin das wirklich ernst meint, dann stellt sie damit die EU zur Disposition. Es ist das Prinzip des europäischen Friedenswerks, das in der Geschichte untrennbar mit den Namen aller bisherigen deutschen Kanzler - auch und gerade denen der Union: Konrad Adenauer und Helmut Kohl - verbunden ist, dass sich die gemeinsame Politik im Diskurs und Konsens entwickelt, nicht im Diktat. Eine Gefährdung dieses Friedenswerks kann nicht im Interesse der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien und schon gar nicht im Interesse Angela Merkels sein. Es wäre ein gefährlicher Schritt für Deutschland und das deutsche Volk, auf dessen Wohl die Kanzlerin einen Amtseid abgelegt hat. Merkel wird einsehen müssen: Sparen ist kein Wert an sich. Politik auch nicht. Beides muss im Interesse der Menschen geschehen, mehr noch: Es muss den Menschen dienen. Dies ist mit einem für die Bürger kaum noch nachvollziehbaren Fiskalpakt, hinter dem sich Europas Politiker - von Ausnahmen wie Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker mal abgesehen - zu verstecken versuchen, nicht zu leisten. Dass das Verfassungsgericht diese Form der Hinterzimmerpolitik ohne Parlamentsbeteiligung korrigieren musste, hat das Fehlurteil der politischen Klasse bereits offenbart. Damit muss Schluss sein. Ebenso wie mit denunziatorischen Attacken auch mancher Medien auf den angeblich fehlenden Spar- und Arbeitswillen in Partnerländern. Im Übrigen unterliegt Angela Merkel einer Fehleinschätzung, wenn sie auf den Fiskalpakt pocht und damit ausschließlich auf Sparen und Ausgabendisziplin setzt. Das auf den Ökonomen Keynes zurückgehende Instrument der Fiskalpolitik umfasst Stabilitäts- und (!) Konjunkturmaßnahmen des Staates. Beides gehört zusammen. Mit einem Fiskalpakt gegen Wachstumsprogramme zu argumentieren geht deshalb fehl. Im Gegenteil: Nicht prozyklisch, wie die EU unter deutschem Antrieb, sondern antizyklisch muss Wirtschaftspolitik angelegt sein. Merkels Krisenkonzept - das wird auch die Kanzlerin schon bald verstehen - ist am Wochenende in Frankreich und Griechenland abgewählt worden. Der Wahlausgang in beiden Ländern schwächt Merkel auf ihrem wichtigsten Kompetenzfeld der Außen-, Finanz- und Europapolitik. Die Korrektur der Merkel'- schen Haltung ist eine Schicksalsfrage für Europa geworden. Die Kanzlerin lernt so etwas normalerweise schnell. Sie wird sich bewegen, weil sie es muss. Sie wird Europa und den Euro nicht preisgeben, weil das den Kontinent - siehe Griechenland - um Jahrzehnte zurückwerfen und den Frieden gefährden würde. Der Wachstumspakt muss also kommen. Und er wird kommen. Je schneller, desto weniger schädlich. Für Europa, den Frieden und die Kanzlerin.

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