Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Verfassungsgericht kippt Wahlrecht Machtfragen THOMAS SEIM
Bielefeld (ots)
Verfassungsfragen sind Machtfragen, und Machtfragen sind Politikfragen. Die Antworten allerdings, die die amtierende Regierung gerade auf diese Fragen gegeben hat, sind beschämend. Es deutet auf einen schlimmen Zustand der politischen Klasse, wenn das Verfassungsgericht, das dazu geschaffen ist, die vor 63 Jahren bei der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht oder noch nicht erkennbaren Fragestellungen zu beantworten oder die Verfassung zu präzisieren, vom Kontrollorgan zum Gestaltungsgremium mutieren muss. Und es ist ja nicht das erste Mal. Ganz gleich, ob Euro-Streit oder Wahlrecht - stets holten die Karlsruher Richter an demokratischer Entscheidungsgewalt das ins Parlament und die breite öffentliche Diskussion zurück, was die exekutierende Regierung sich gerade an Recht usurpiert hatte. Man muss beginnen, die Frage nach dem republikanisch-demokratischen Kompass dieser Bundesregierung zu fragen. Es ist ein Unding, dass die Verfassungsrichter den Regierenden erklären müssen, was ein demokratisches Wahlrecht ist. Man mag diese "Klatsche" wegen der Eindeutigkeit der Rechtslage erwartet haben. Denn in der Tat waren bereits im Beratungsprozess des Gesetzes erhebliche Zweifel daran aufgetaucht. Die politische Wirkung eines solchen Verhaltens der Exekutive allerdings ist verheerend. Sie weckt die Erinnerung an das fatale Merkel-Wort vom "Durchregieren", das sie 2009 für die schwarz-gelbe Mehrheit in Bundestag und Bundesrat reklamierte. Wenn schon gewählte Volksvertreter so wenig Achtung vor dem Rechtsstaat und dem Wahlrecht haben, wie wollen sie dann der latenten Versuchung widerstehen, alle demokratisch legitimierte Macht und also sich selbst aufzugeben? Wenn die Machtfrage zur Verfassungsfrage wird, ist etwas faul im Staat. Gut, dass es Verfassungsrichter gibt!
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