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Neue Westfälische (Bielefeld)

Neue Westfälische (Bielefeld): NRW-Verkehrsminister kündigt ein "Jahrzehnt der Baustellen" an Groschek geißelt Gaffertum bei Unfällen als "erbärmlich"

Bielefeld (ots)

Die Reparatur-Arbeiten an deutschen Autobahnbrücken werden mindestens ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen. Das kündigt NRW-Verkehrsminister Michael Groschek (SPD) in einem Gespräch mit der in Bielefeld erscheinenden "Neuen Westfälischen" an. "Wir haben mindestens ein Jahrzehnt der Baustelle vor uns. Wir müssen mehr reparieren und ausbauen an Engpassstellen", sagte Groschek. Allein in NRW müssten in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren Brücken in einem Volumen zwischen 4,5 und 5 Milliarden Euro erneuert werden. "Das muss finanziert werden durch den Bund. Der Bund ist verantwortlich für seine Brücken. Wir müssen die Planung für den Neubau liefern", sagte der NRW-Minister. Besonders scharf ins Gericht ging Groschek mit Schaulustigen bei Unfällen auf Autobahnen, gegen die man inzwischen provisorische Sichtschutzwände aufbauen müsse. "Ich finde es erbärmlich, dass wir eine halbe Million Euro ausgeben müssen, um eine neue Qualität an egoistischem Gaffertum in den Griff zu kriegen. Das Recht auf Selfie hat seine Grenzen, wo die Würde des Menschen angetastet wird. Wer sich ergötzt am Unfallleid anderer, sollte sich fragen, ob er nicht dringend auf die Couch gehört", so der Minister.

Das Interview im Wortlaut:

Herr Groschek, Die Verkehrszahlen auf den Autobahnen wie der A 2 sind steigend, vor allem beim Schwerverkehr. Ist das eher eine zu große Last für das Netz?

MICHAEL GROSCHEK: Diese Medaille hat zwei Seiten. NRW ist der führende Logistikstandort in Deutschland und muss das auch bleiben. Diese Kompetenz müssen wir auf alle Verkehrsträger ausbauen: Wasser, Luft, Schiene und auch Straße. Auf der anderen Seite ist die Explosion des Schwerverkehrs die Strafe für die politische Lebenslüge Nummer eins in der Verkehrspolitik.

Was bedeutet das?

GROSCHEK: Seit Jahrzehnten beschließen alle Parteitage, mehr Güter von der Straße auf die Schiene zu bringen. Im Alltag ist aber das Gegenteil passiert. Deshalb findet ein Ausbau der Schiene, wenn überhaupt, erst jetzt statt. Auch das trägt zu dem beklagten Engpass auf den Straßen bei. Dazu kommt ein eklatanter Engpass auf den Wasserstraßen. Das ist der Planungsstau, den der Bund verursacht. Der Bund ist nicht dazu in der Lage, viele hundert Millionen Euro, die zur Verfügung stünden, umzusetzen, weil ihm die Planer fehlen. Ich hoffe sehr, dass der Bund nun endlich eine Planungsoffensive startet, damit die Straße entlastet wird.

Muss der Bund mehr Geld für den Erhalt der Autobahnen in die Hand nehmen?

GROSCHEK: Der Bund scheint inzwischen verstanden zu haben, dass Erhalt vor Neubau geht. Der Anteil der Erhaltungsmaßnahmen ist gegenüber den Neubaumaßnahmen auf Bundesfernstraßen in NRW in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. Da befinden wir uns auf einem guten Weg. Aber wir benötigen auch mehr Verlässlichkeit: Alle Verkehrsminister haben längst verabredet, dass wir endlich eine überjährige Finanzierung garantieren müssen. Dazu gehört eine entsprechende kontinuierliche und transparente Mittelbereitstellung, die uns in die Lage versetzt, unsere Planungskapazitäten für die nächsten Jahre verlässlich zu kalkulieren.

Herr Dobrindt sagt ja, bei uns in NRW sind zu wenig Projekte baureif und deshalb könne er nicht mehr Investitionsmittel zuweisen. Stimmt das?

GROSCHEK: Nicht wirklich. Das Bundesverkehrsministerium hat offenbar eingesehen, dass es bei der Mittelverteilung NRW anders behandelt hat als andere Bundesländer. Inzwischen hat der Bund die Finanzierung für drei weitere Neubaumaßnahmen in NRW zugesichert. Weiterhin wurde in Aussicht gestellt, dass der sechsstreifige Ausbau der A 1 zwischen Lotte/Osnabrück und Lengerich für insgesamt 150 Millionen Euro als ÖPP-Projekt umgesetzt werden soll. Kern des Problems ist aber ein ganz anderer: Wir müssen endlich die Frage der enormen Planungskosten für Bundesfernstraßenprojekte angehen, die ganz überwiegend von den Ländern auf eigenes Risiko gestemmt werden müssen. Wir müssen als Bundesland mindestens zehn Prozent der Baukosten als Planungskosten bezahlen und bekommen dies von niemandem erstattet. Das heißt, wenn wir einen Planungsvorrat von einer Milliarde Euro anlegen, haben wir 100 Millionen Euro gebunden, die bei Schule, Polizei oder Justiz fehlen.

Die Autobahnbrücken sind seit Jahren besonders marode. Muss die Politik bei den Investitionen in den Erhalt in noch ganz anderen Dimensionen denken als bisher?

GROSCHEK: Die Dimensionen sind gutachterlich klar: Allein in NRW müssen in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren Brücken in einem Volumen zwischen 4,5 und 5 Milliarden Euro erneuert werden. Das muss finanziert werden durch den Bund. Der Bund ist verantwortlich für seine Brücken. Wir müssen die Planung für den Neubau liefern. Das werden wir Zug um Zug auch mit externen Vergaben machen.

Wie realistisch ist ein achtspuriger Ausbau der A 2?

GROSCHEK: Der achtspurige Ausbau der A 2 ist in Teilabschnitten für den Bundesverkehrswegeplan angemeldet. Die Belastungsdaten, die wir zur Verfügung haben, deuten darauf hin, dass das angemessen ist. Wir sind jetzt gespannt auf die Bewertung durch den Bund und werden dann dazu Stellung beziehen.

Wie funktioniert die Verkehrsleitzentrale von Straßen NRW?

GROSCHEK: Diese funktioniert gut, wenngleich man natürlich nicht die Illusion in die Welt setzen darf, es gäbe ein staufreies NRW, wie es manche Politkabarettisten sagen. Ich werde mich an diesem Politkabarett nicht beteiligen, sondern im Gegenteil viel Baustau versprechen. Wir haben mindestens ein Jahrzehnt der Baustelle vor uns. Wir müssen mehr reparieren und ausbauen an Engpassstellen. Und wir müssen vor allem die Brücken- und Autobahnthematik angehen. Das bedeutet weitere Baustellen, die aber intelligent organisiert sein müssen. Was die kurzzeitigen Baustellen auf den Hauptverkehrsstrecken angeht, hat NRW bundesweit die meisten Nachtbaustellen. Wir haben das klügste Baustellenmanagement bundesweit. Ich bin optimistisch, das wir das Jahrzehnt der Baustelle so hinter uns bringen, dass wir danach Licht am Ende des Tunnels sehen.

Baustellen sind auch immer Punkte mit erhöhtem Unfallrisiko. Wie haben sich die in diesem Jahr eingeführten mobilen Sichtschutzwände an Unfallstellen bewährt?

GROSCHEK: Wir haben mehr als ein Dutzend solcher Einsätze gehabt. Wenn wir diesen Sichtschutz innerhalb von einer halben Stunde errichten können, macht das Sinn. Das eigentlich Skandalöse ist ja, dass wir einem Teil der Bevölkerung diesen Spiegel vorhalten müssen. Ich finde es erbärmlich, dass wir eine halbe Million Euro ausgeben müssen, um eine neue Qualität an egoistischem Gaffertum in den Griff zu kriegen. Das Recht auf Selfie hat seine Grenzen, wo die Würde des Menschen angetastet wird. Wer sich ergötzt am Unfallleid anderer, sollte sich fragen, ob er nicht dringend auf die Couch gehört.

Gibt es einen Mangel an Parkplätzen an Autobahnen?

GROSCHEK: Ja, sicher. Nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs und den Auswirkungen der Globalisierung. Ein Containerschiff fasst bis zu 19.000 Container, das sind etwa 19.000 Lkw. Diese Gigantomanie ist nicht länger steigerbar. Das Lkw-Wachstum führt dazu, dass Lastwagen Stellflächen brauchen, entweder entlang der Autobahnen oder auf zusätzlichen Autohöfen. Das Problem ist im Moment noch nicht gelöst. Wir haben an der A 2 erst wieder einen Parkplatz mit 199 Plätzen eingeweiht. All das ist ein Nachlaufen der Entwicklung, die die Verkehrsplanung in Europa überrollt hat. Rastplätze werden mittlerweile auch zu Campingplätzen. Sozialdumping darf nicht der Schlüssel für die Logistikbranche sein.

Ihre wichtigsten Ziele für die Entwicklung des Autobahnnetzes in NRW?

GROSCHEK: Wir müssen Ehrlichkeit walten lassen und keine frommen Wünsche für die Wirklichkeit halten. Wir müssen Verkehrsträger endlich übergreifend planen und nicht die Verkehrssparten gegeneinander ausspielen. Und ich werbe für eine parteiübergreifende Allianz für die Infrastruktur. Wir brauchen mehr Infrastruktur. Das geht nicht, wenn die Parteien gegeneinander arbeiten, denn wir müssen die Bürger überzeugen. Mit Wutbürgern allein wird diese Republik nicht zu bewegen sein.

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