Sieg des Sultans/Kommentar von Friedrich Roeingh
Mainz (ots)
Ein Ergebnis, das erschreckend eindeutig ist: Die Wahlen in der Türkei sind nicht nur ein persönlicher Triumph Recep Tayyip Erdogans. Sie sind ein Sieg der Autokratie gegen Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, sie sind ein Sieg der Religion und des türkischen Nationalismus gegen Vielfalt und Toleranz, sie sind ein Sieg des Sultans gegen Frauenrechte, Minderheiten und mehr regionale Demokratie im Vielvölkermosaik Türkei. Es ist ein schwarzer Tag für die moderne Türkei, die sich mit dieser Wahl dem Iran annähert und weiter von Europa entfernt. Daran wird auch die erzwungene Stichwahl in 14 Tagen nichts ändern. Es ist eher zu befürchten, dass sich der überraschend eindeutige Trend noch einmal verstärken wird. Der Trend, der sich nicht nur in Erdogans Vorsprung, sondern auch in der eindeutigen Mehrheit seines Wahlbündnisses bei der Parlamentswahl manifestiert. Mit welchen Kräften sollte ein Reformpräsident denn die Abschaffung der Gewaltenteilung durchsetzen? Die ernüchternde Erkenntnis nach dieser historischen Chance auf einen Machtwechsel: Nichts und niemand kann diesen Herrscher in dieser Türkei aufhalten. Kein noch so breites Wahlbündnis, kein aufrechter Gegenkandidat, keine noch so starke Wirtschaftskrise, kein Staatsversagen bei einer nationalen Katastrophe wie den Erdbeben in der Südosttürkei, bei der Erdogans Baukorruption und sein brutaler Zentralismus auf so fatale Weise zehntausende von Menschen das Leben gekostet haben. Dagegen steht eine Figur, die auf traumwandlerische Weise die türkische Mehrheitsgesellschaft gegen ihre Minderheiten aufwiegelt - im sunnitisch-religiösen Sinn wie in der Frage der nationalen Einheit, die damit die Bekämpfung und Marginalisierung von ethnischen Minderheiten meint. Das ist umso enttäuschender als die Türkei bei dieser Wahl bewiesen hat, dass ihr demokratischer Reflex trotz gleichgeschalteter Presse und gleichgeschalteter Justiz stärker ist als von außen für möglich gehalten. Das spiegelt sich in der hohen Wahlbeteiligung und in einer Wahlbeobachtung, bei der die oppositionellen und zivilgesellschaftlichen Kräfte so gut wie keine Urne aus den Augen verloren haben. In der Türkei des 21. Jahrhunderts scheint die Demokratie nur noch die Aufgabe zu haben, sich selbst abzuschaffen. Das Ergebnis wird sich alsbald in einem Exodus junger, qualifizierter Türkinnen und Türken zeigen, was die Demokratie und die Zivilgesellschaft in der Türkei weiter schwächen wird. Die Ursachen für diesen schwarzen Sonntag liegen in drei Komplexen, die die moderne Türkei seit ihrer Gründung verfolgen: Es war die fatale Bekämpfung des Religiösen in einer religiös geprägten Gesellschaft, mit der die Kemalisten selbst das Grab für ihren übersteigerten Laizismus schufen. Es war der türkische Nationalismus, der die Minderheiten im Vielvölkerstaat zunächst negierte und später auch militärisch unterdrückte. Und es war der Geburtsfehler der Einparteienherrschaft und des Personenkults um Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, an die Erdogan unter umgekehrten Vorzeichen so geschickt anknüpft. Zudem haben Erdogans Kraftmeierei gegenüber der EU und der Nato sowie seine selbstbewusste Schaukelpolitik gegenüber Russland und China ihm mehr genützt, als ihm seine falschen Rezepte gegen die Wirtschaftskrise geschadet haben. Der Traum, dass sich nach Brasilien eine zweite Demokratie ihres Autokraten entledigt, ist ausgeträumt. Eine Entwicklung, die Europa und die USA auch im Dialog mit dem globalen Süden weiter schwächt.
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