Giftspinne im Äther: NDR stellt Studie über Stasi Einfluss auf den Sender vor
Hamburg (ots)
Eine systematische Bearbeitung oder gar Beeinflussung des NDR und seiner Sendungen durch die Stasi hat es nicht gegeben, wohl aber punktuelle Erfolge des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS). Dies ist eine zentrale Erkenntnis einer Studie zur Aufarbeitung der gegen den NDR gerichteten geheimdienstlichen Tätigkeit der Stasi in den Jahren 1950 bis 1989. In Auftrag gegeben hat die Studie NDR Intendant Prof. Jobst Plog. Realisiert wurde das Projekt in Zusammenarbeit mit der Birthler-Behörde von den beiden Forscherinnen Rahel Frank und Sandra Pingel-Schliemann. Der Titel ihrer 492-seitigen Arbeit lautet Giftspinne im Äther; er geht zurück auf einen am 28. Dezember 1961 ausgestrahlten Kommentar von Günter Herlt, ehemals Leiter des Senders Schwerin. In diesem Kommentar bezeichnete er den NDR als Giftspinne im Äther.
Der NDR als Ost-West-Sender hat ein besonderes Interesse an der Aufarbeitung dieses Teils seiner Geschichte, so Intendant Plog bei der Vorstellung der Studie am Freitag (24. Juni) in Hamburg. Dass wir hier Vorreiter waren, zeigt ein ähnliches Projekt auf ARD-Ebene, für das wir Impulsgeber waren. Wünschenswert wären vergleichbare Anstrengungen auch anderer Sender und Verlage aus der alten Bundesrepublik.
Marianne Birthler, die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, stufte das Projekt des NDR als vorbildlich ein. Der NDR hat mit diesem Forschungsprojekt als erste öffentlich-rechtliche Anstalt Aufarbeitung in eigener Sache begonnen. Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur hat im NDR Tradition. Erinnert sei beispielsweise an das Projekt Erinnerung für die Zukunft.
Auf Grundlage der Untersuchung ist auch eine TV-Dokumentation entstanden, die sich mit dem Einfluss des Mielke-Ministeriums auf den NDR auseinandersetzt. Sie trägt den Titel Feindobjekt NDR; Autoren sind Tom Ockers und Friederike Pohlmann (Sendetermin: Montag, 27. Juni, 23.00 Uhr, NDR Fernsehen).
Weitere wichtige Ergebnisse der Studie, die auf Seiten des NDR von Gerd Schneider, dem Direktor des Landesfunkhauses Mecklenburg- Vorpommern, koordiniert wurde: Die Stasi stufte den NDR zwar als so genanntes Feindobjekt ein; die tatsächlich entfalteten Aktivitäten entsprachen jedoch nicht der hohen Priorität dieser Klassifizierung. Gleiches gilt für die Zahl der Anwerbungsversuche: Es waren weit weniger, als man bei einem Feindobjekt hätte erwarten können. Eine bezifferbare Aussage darüber, wie viele inoffizielle Mitarbeiter das MfS zwischen 1950 und 1989 im NDR und seinem Vorgänger NWDR gewinnen konnte, ist nach gegenwärtigem Erkenntnisstand nicht möglich. Klar ist: Die Stasi hat weder Leitungsgremien noch Journalisten oder Produktions-/Technikmitarbeiter systematisch bearbeitet, sie hat die Sendungen des NDR nicht systematisch beobachtet und ausgewertet. Es gelang ihr weder eine dauerhafte Einflussnahme auf das Programm noch eine Reglementierung DDR-kritischer Journalisten im NDR.
Nach derzeitigem Wissensstand gab es nur einen Journalisten, der zum Zeitpunkt seiner beruflichen Tätigkeit beim NDR gleichzeitig für die Auslandsaufklärung des MfS als Agent arbeitete. Allerdings war dieser Mitarbeiter nicht auf den NDR angesetzt, sondern auf die SPD Schleswig-Holstein.
In einzelnen Redaktionen konnte die Stasi punktuelle Erfolge erzielen. So brachten die Ostagenten Ende der 80er-Jahre einen gefälschten Barschel-Brief im Politmagazin Panorama unter, der den damaligen Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg schwer belastete. Weitere Zielbereiche der Stasi waren die niederdeutschen Hörfunkredaktionen und die Gesprächssendung Talk op platt. Eine Instrumentalisierung für Propagandazwecke gelang dem MfS allenfalls bei Reisekorrespondenten die ständig akkreditierten NDR Korrespondenten waren dafür nicht zu gewinnen.
Für ihre Arbeit, die von Februar 2001 bis April 2005 dauerte, sichteten die Autorinnen der Studie mehr als 4500 Akten und werteten sie aus. 1600 dieser Akten enthielten Materialien des MfS, die über die Birthler-Behörde zugänglich gemacht wurden. Von nahezu allen Beteiligten und Zeitzeugen lag die Zustimmung zur Akteneinsicht vor für die Veröffentlichung der Studie ein unschätzbarer Vorteil. Das übrige Material entstammt unterschiedlichen Quellen, es kam u. a. aus dem Bundesarchiv, der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, dem Staatsarchiv Hamburg, dem NDR Archiv und aus Privatunterlagen. Außerdem wurden rund 100 Zeitzeugen-Interviews geführt und dokumentiert.
24. Juni 2005/MG
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