DBV-Mitgliederversammlung verabschiedet "Freiburger Erklärung"
Unsere Lebensmittel sind mehr wert! Lebensmittelmärkte sind bedroht
Berlin (ots)
Die Mitgliederversammlung des Deutschen Bauernverbandes (DBV) hat auf dem Bauerntag 2003 in einer "Freiburger Erklärung" zum Preiskampf bei Lebensmitteln im Handel Stellung bezogen. Dabei wurde auch eine Zwischenbilanz der Kampagne "Lebensmittel sind mehr wert!" gezogen. Die Freiburger Erklärung lautet wörtlich:
1. Nirgendwo in Europa werden Nahrungsmittel im Lebensmitteleinzelhandel so einseitig über den Preis und nicht über die Qualität verkauft wie in Deutschland. Die extreme Ausrichtung auf das Niedrig-Preis-Sortiment der Discounter hat zu einem ruinösen Wettbewerb und einer erdrückenden Konzentration im Lebensmitteleinzelhandel geführt. Dadurch wurde eine regelrechte Wertevernichtung bei Lebensmitteln in Gang gesetzt, die den viertgrößten Wirtschaftszweig in Deutschland, die Land- und Ernährungswirtschaft mit circa 4,2 Millionen Beschäftigten, existenzbedrohlich gefährdet. Dies gilt gegenwärtig in extremem Maße in der Milch- und Schweineproduktion. In anderen Bereichen sind ähnliche wertvernichtende Entwicklungen zu beobachten.
2. Die in der Regel noch mittelständisch geprägte Agrar- und Ernährungswirtschaft ist durch eklatante Wettbewerbsnachteile gegenüber den konzentrierten Nachfragern im Lebensmitteleinzelhandel kaum noch in der Lage, eine qualitätsorientierte Erzeugung kostendeckend im Markt unterzubringen. Zukunftsorientierte Produktentwicklung und -forschung wird eingestellt oder mit der Produktion ins Ausland verlagert. Der zunehmende Aufkauf von heimischen Schlachthöfen, Molkereien, Brauereien und Mühlen durch ausländische Unternehmen zeigt die strukturellen Probleme in Deutschland deutlich auf.
3. Die ruinöse Markt- und Preisentwicklung auf den Nahrungsmittelmärkten Deutschlands trifft vor allem die von Nachhaltigkeit geprägte und von Bauernfamilien getragene Landwirtschaft in Deutschland. Einerseits wird sie durch ihre Abnehmer extrem unter Druck gesetzt, auch unter Hinweis auf Angebote aus dem Weltmarkt. Andererseits stellen Politik und Gesellschaft nostalgisch geprägte Anforderungen an die Bauern und verlangen die Einhaltung hoher Standards im Tier-, Natur- und Umweltschutz. Dies ist umso widersprüchlicher, als diese Ansprüche und Standards gegenüber Lebensmittelimporten aus Drittländern kaum oder gar nicht gestellt werden.
4. Vordergründig und kurzfristig profitieren die Verbraucher von den äußerst niedrigen Nahrungsmittelpreisen. Nahrungsmittel waren und sind in Deutschland die Inflationsbremse Nummer eins für die privaten Haushalte. Sie sind damit in der Lage, aus einer Fülle von Produkten zu äußerst günstigen Einkaufsbedingungen auszuwählen.
Land- und Ernährungswirtschaft, Umwelt und Verbraucher nehmen Schaden
5. Der Preiskampf auf den Nahrungsmittelmärkten gefährdet Hunderttausende von Arbeitsplätzen in der Land- und Ernährungswirtschaft. Der völlig verzerrte Wettbewerb zwischen den Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels, der Ernährungswirtschaft und der Landwirtschaft ist zum Schaden der Tüchtigen in der gesamten Lebensmittelkette. Die Nachhaltigkeit der Nahrungsmittelproduktion wird dadurch in Frage gestellt und die gesamte Lebensmittelkette beeinträchtigt.
6. Leidtragende sind schon auf mittlere Sicht auch die Verbraucher. Denn die in Jahrzehnten aufgebaute und systematische Qualitätsarbeit im Sinne des gesundheitlichen und vorbeugenden Verbraucherschutzes sowie des Umweltschutzes und Tierschutzes wird aufs Spiel gesetzt. Ebenso wird die soziale Lage der in der Land- und Ernährungswirtschaft Beschäftigten extrem verschlechtert.
Zu einer nachhaltigen Nahrungsmittelproduktion gibt es keine Alternative
7. Alle Beteiligten an der Wertschöpfungskette für Nahrungsmittel müssen zu einer erfolgreichen Verantwortungskette werden:
7.1 Der Lebensmitteleinzelhandel muss seine Verkaufsstrategie wieder deutlicher über die Qualität definieren. Überkapazitäten an Verkaufsflächen als Bremsklotz für eine rendite- und qualitätsorientierte Unternehmensphilosophie müssen endlich beseitigt werden. Kommt der Lebensmitteleinzelhandel dieser Aufgabe nicht nach, muss der Staat mit den Mitteln des Wettbewerbsrechts und der Missbrauchsaufsicht einschreiten und Chancengleichheit für die ernährungswirtschaftlichen Unternehmen herstellen. Auch der Landwirtschaft muss die Möglichkeit eingeräumt werden, gesetzeswidriges Verhalten des Lebensmitteleinzelhandels abzumahnen.
7.2 Die Ernährungswirtschaft muss ihre Eigenanstrengungen zur strukturellen Bereinigung forcieren. Nur Unternehmen, die selbst in der Lage sind, Produktentwicklung voranzutreiben, haben auf Dauer im harten Wettbewerb mit dem Lebensmitteleinzelhandel eine Chance. Das setzt Größe und gegengewichtige Marktmacht voraus. Handwerkliche und mittelständische Unternehmen sind so zu fördern, dass sie marktbeherrschenden Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels abgestimmte Verhaltensweisen entgegensetzen können.
7.3 Die Landwirtschaft wird auch bei weiterhin stattfindendem Strukturwandel lokal produzieren und sich den natürlichen Produktionsbedingungen anpassen.
Deshalb gilt es, alle Möglichkeiten der Bündelung des zersplitterten Angebotes, z.B. über Genossenschaften, zu nutzen und auszubauen. Damit die multifunktionale Landwirtschaft trotz ihrer strukturbedingten und natürlichen Wettbewerbsnachteile ihre Aufgaben erfüllen kann, braucht sie eine gute Begleitung von Seiten der nationalen und europäischen Politik, insbesondere in den laufenden WTO-Verhandlungen.
7.4 Dringend notwendig ist eine engere Zusammenarbeit aller Wirtschaftsbeteiligten in der Produktionskette für Nahrungsmittel. Die neuen Qualitätssicherungssysteme QS und QM stehen produkt- und stufenübergreifend als besondere Beispiele dafür. Ausgangspunkt ist die Notwendigkeit von mehr Transparenz und Rückverfolgbarkeit in der Produktionskette und die Sicherung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes. Der Lebensmittelhandel muss sich klar zu den Qualitätssicherungssystemen QS und QM bekennen und diese in großer Breite anwenden. Langfristiges Ziel ist und bleibt dabei eine höhere Wertschöpfung getragen und gespeist durch ein besseres Verbrauchervertrauen. Dies muss für konventionell wie ökologisch wirtschaftende Landwirte und vermarktende Unternehmen gleichermaßen gelten.
Schlüsselkampagne "Lebensmittel sind mehr wert!"
8. Auf dem Deutschen Bauerntag 2003 in Freiburg wird eine Zwischenbilanz der Kampagne "Lebensmittel sind mehr wert!" gezogen. Diese Kampagne
8.1 erinnert den Lebensmitteleinzelhandel an seine Verantwortung für qualitativ hochwertige Lebensmittel, was sich in fairen Nahrungsmittelpreisen widerspiegeln muss;
8.2 ermutigt zu mehr Gemeinsamkeit von Handel, Ernährungswirtschaft und Landwirtschaft im wirtschaftlichen Tun wie im öffentlichen Auftreten;
8.3 fordert die Politik in Bund und Ländern auf, einseitige und kostentreibende Auflagen abzustellen oder finanziell auszugleichen. Ziel muss sein, EU-weit einheitliche Regelungen im Tier-, Natur- und Umweltschutz sowie im gesundheitlichen Verbraucherschutz durchzusetzen und anzuwenden.
8.4 erwartet von Bund und Ländern die Sicherstellung eines ungeteilten Verbraucherschutzes auch und gerade bei Importen in den gemeinsamen Binnenmarkt.
8.5 fordert Bund und Länder auf, bestehende Mängel in der Zusammenarbeit der Verwaltung abzustellen, wie sie sich bei der Bewältigung von Tierseuchen der gezeigt haben;
8.6 zielt auf einen verantwortungsbewussten Umgang mit neuen Technologien wie zum Beispiel der Bio- und Gentechnik ab;
8.7 unterstützt innovative Lösungen etwa bei nachwachsenden Rohstoffen und erneuerbaren Energien;
8.8 ruft alle Bauernfamilien und insbesondere auch die junge Generation zum verstärkten Dialog mit den Verbrauchern auf!
Verantwortung liegt bei Verbrauchern und Mitbürgern
9.1 Die deutschen Bauern bieten Lebensmittel mit hoher Qualität, Produktvielfalt und Regionalität auf gesicherter Basis an. Sie appellieren an alle Verbraucher die eigene Einstellung zu den Lebensmitteln und zur Nahrungsmittelproduktion zu prüfen und zu ändern. Dabei haben auch die Verbraucherverbände ein hohes Maß an Verantwortung, über die Zusammenhänge von Preis und Qualität aufzuklären.
9.2. Die Verbraucher entscheiden beim Kauf von Lebensmitteln letztlich auch darüber, ob eine verbrauchernahe, nachhaltige Land- und Ernährungswirtschaft in Deutschland eine Perspektive behält. Eine gepflegte Kulturlandschaft, eine intakte Umwelt und eine gute Lebensmittelqualität sind von dieser Entscheidung abhängig.
Pressekontakt:
Deutscher Bauerntag 2003
Dr. Michael Lohse
Pressesprecher
Tel.: 0761 / 7678 900
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