Westfalen-Blatt: Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Fritzl-Prozess:
Bielefeld (ots)
Josef Fritzl habe sich im Keller eine zweite Familie schaffen wollen und sich um sie gekümmert. Diese Darstellung seines Anwalts ist mit »beschönigend« noch harmlos umschrieben. Treffender ist: Wegen des Falls Josef Fritzl könnten Pessimisten an der Menschheit verzweifeln. Dass ein einzelner Mann so große Schuld auf sich laden kann, macht fassungslos. Das Martyrium seiner ins Verlies verschleppten und tausendfach vergewaltigten Tochter Elisabeth ist gleichermaßen erschütternd wie spektakulär. Diese Mischung erklärt das außergewöhnlich hohe Maß der Berichterstattung über den Prozess in St. Pölten. Weil aber alle Kameras auf Fritzl gerichtet sind, droht die Gefahr, dass das spektakulärste Verbrechen, das im vergangenen Jahr ans Tageslicht kam, den Blick für die Realität trübt. Das Inzestverbrechen von Amstetten ist ein krasser Einzelfall. Millionen Menschen in aller Welt tun jeden Tag Gutes; allein in Deutschland engagieren sich mehr als 23 Millionen Männer und Frauen für Kranke, für ältere Menschen und Nachbarn. Aber wenn sie das tun, ist in den seltensten Fällen eine Kamera dabei. Zu Recht warnte die Richterin in St. Pölten vor Verallgemeinerung: »Dies ist die Tat eines Einzeltäters, nicht das Verbrechen des ganzen Ortes oder der ganzen Nation.« So wenig wie der Anwalt das Verbrechen beschönigen sollte, dürfen wir trotz Josef Fritzl an der Menschheit verzweifeln.
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