Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Thema Europa:
Bielefeld (ots)
Was soll man von uns Europäern halten? Bürger wie Regierungen werden nicht müde, eine Verfassung zu blockieren, die die größer gewordene Staatengemeinschaft dringend braucht. Doch lieber will man keine als eine, die noch kleine Macken hat. Was stand eigentlich noch mal drin im Vertrag von Lissabon? Gleichzeitig wird allerorten ausdauernd geschimpft, welcher Unfug da angeblich in Brüssel und Straßburg verzapft werde. Doch kennt sich von den Beschwerdeführern wirklich jemand mit den Gremien dort aus? Frieden und Freiheit, die Segnungen der Europäischen Union, genießen wir zwar, würdigen die EU aber höchst selten dafür. Hatten wir das alles nicht auch schon immer? Bürger wie Politiker scheinen auch in diesem Sommer zu müde, der Wahl der europäischen Volksvertretung einen würdigen Rahmen zu geben; durch engagierte Vorstellung ihrer Anliegen auf der Politikerseite - und ein Mindestmaß an Interesse auf der Bürgerseite. Die Quittung zeichnet sich ab: Es ist zu erwarten, dass bei der Europawahl an diesem Sonntag nicht einmal jeder zweite der 64,3 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland seine Stimme abgeben wird. Aber ist das wirklich schlimm? Ist die Wahlmüdigkeit Anlass, am Projekt Europa zu verzweifeln? Die Antwort gibt ein Blick zurück - in das Jahr 1945. Damals ging der größte und verheerendste Konflikt in der Menschheitsgeschichte gerade zu Ende. Der Zweite Weltkrieg mit seinen 55 bis 60 Millionen Toten, abscheulichen Verbrechen und unendlichem Leid ließ den Überlebenden wenig Hoffnung für die Zukunft. 64 Jahre später ist da, wo die Schlachtfelder waren, längst ein riesiger Wirtschaftsraum entstanden, in dem das größte Bruttoinlandsprodukt der Welt erwirtschaftet wird. Die 27 Staaten, die die Europäische Union bilden, haben - angetrieben von den ehemaligen Kriegsgegnern Frankreich und Deutschland - ihre Feindschaft überwunden. Eine halbe Milliarde Menschen lebt friedlich zusammen. Krieg zwischen den EU-Nationen ist für mehrere Generationen von Europäern nicht mehr vorstellbar. All das ist Anlass, sich über das Projekt Europa zu freuen. Natürlich könnten die demokratischen Strukturen der EU direkter, unmittelbarer und transparenter sein. Natürlich wären massentauglichere Spitzenpolitiker wünschenswert, denn Politikvermittlung funktioniert durch Personalisierung besser. Aber die Staatsschauspieler treten da auf, wo die großen Bühnen stehen. Die stehen noch in Berlin, Paris und Rom. Wer die Besten der Besten für Europa will, muss akzeptieren, dass die politischen Gremien der Nationalstaaten an der ihnen beigemessenen Bedeutung verlieren. An tatsächlicher Bedeutung haben sie längst verloren. Dieser Prozess muss und wird sich fortsetzen - über die schlechte Wahlbeteiligung an diesem Sonntag hinaus.
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