Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Entschädigung für frühere Heimkinder
Bielefeld (ots)
Ich habe den Mann, der alle paar Wochen anruft, weil er reden muss, noch nie getroffen. Aber in langen Gesprächen habe ich erfahren, dass er wohl älter als 50, etwa 1,90 Meter groß und »ein Mann wie ein Baum« sein muss. Umso erschütternder ist, dass er regelmäßig nach einigen Minuten hemmungslos zu weinen beginnt und seine Worte im Schluchzen untergehen. Jahrzehnte ist es her, dass er seine Kindheit im Salvator-Kolleg in Hövelhof-Klausheide verbringen musste. Bei seinem letzten Anruf hat mir der Mann endlich erzählt, was ihm dort passiert war. Er sei im Kartoffelkeller von einem Franziskaner missbraucht worden, schluchzte er ins Telefon. Zehn sei er damals gewesen. So erschütternd das Schicksal dieses Mannes ist - es ist kein Einzelfall. Natürlich sind nicht alle 800 000 Kinder und Jugendlichen, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 70er Jahre unter kirchlicher oder staatlicher Kontrolle aufwuchsen, vergewaltigt worden. Aber auf die ein oder andere Weise haben Zigtausende unter dem Machtmissbrauch der Erzieher, der Schwestern und Pater leiden müssen. Da ist die Frau, die nie vergessen wird, dass sie und ihre Zwillingsschwester als Waisen in einem evangelischen Heim immer und immer wieder ihr Erbrochenes essen mussten. Und da ist der Mann, der als Kind mangels anderer freier Heimplätze einfach in die Psychiatrie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe gesteckt worden war. Es ist gut, das der »Runde Tisch Heimerziehung«, der gestern in Berlin nach annähernd zweijähriger Arbeit seinen Abschlussbericht vorgelegt hat, die Schuld der damals Handelnden und Verantwortlichen klar beim Namen nennt. Alles andere wäre aber auch gar nicht vorstellbar gewesen. Es ist jedoch unzureichend, dass der Runde Tisch dem Bundestag nur einen Entschädigungsfonds von 120 Millionen Euro vorgeschlagen hat - rein rechnerisch 150 Euro für jedes der 800 000 früheren Heimkinder. Zigtausende jugendlicher »Zöglinge« mussten für Hella und andere Firmen arbeiten, ohne dass für sie Geld in die Rentenkasse gezahlt wurde. Andere wurden vergewaltigt, illegal mit Psychopharmaka ruhiggestellt oder seelisch gequält. Wenn Kirche und Staat jetzt ihre Schuld zugeben, muss sich diese Verantwortung auch in angemessenen Entschädigungszahlungen ausdrücken - auch wenn kein noch so hoher Betrag das Geschehene wiedergutmachen kann. Denn viele frühere Heimkinder haben später nie Tritt gefasst. So hat der Mann, der mich immer wieder anruft, nach eigenen Angaben gerade die 153. Arbeitsstelle. Nie habe er sich länger als ein paar Wochen halten können, weil seine Gedanken immer wieder um seine Vergewaltigung kreisten, sagt er. Auch wenn das Geld knapp ist: Kirche und Staat sollten die letzten Lebensjahre dieser Menschen schnell und großzügig absichern. Sonst fühlen sich die früheren Heimkinder zu Recht über den runden Tisch gezogen.
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