Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum ESM-Verfahren
Bielefeld (ots)
Welch Last für den gebürtigen Detmolder Andreas Voßkuhle: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts ist mit seinen sieben Richterkollegen des Zweiten Senats aufgerufen, zu entscheiden, ob der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Vorerst geht es zwar nur um eine Eilentscheidung, doch diese Einschränkung gilt vielen in den Turbulenzen der Euro-Krise schon fast als juristische Spitzfindigkeit. So kann man noch so oft betonen, dass eine Eilentscheidung nicht zwingend etwas über das Urteil im Hauptsacheverfahren aussagt - es will kaum einer hören. Endgültiger als dieses Mal dürfte eine vorläufige Entscheidung nie verstanden werden. Der Druck ist riesig. Doch bleibt den Richtern in den roten Roben womöglich nur die Wahl zwischen Pest und Cholera? Entweder Europa fortschreiben und das Grundgesetz opfern oder das Grundgesetz verteidigen und Europa riskieren. Zwar ist es die ureigene Aufgabe Karlsruhes, über den Umgang der Politik mit der Verfassung zu wachen. Beim ESM-Entscheid aber könnten die Verfassungshüter wie selten zuvor selbst Politik machen. So mangelt es an Mahnungen und Warnungen nicht, und nicht wenige lassen dabei den nötigen Respekt vor dem höchsten aller deutschen Gerichte, dieser ganz besonderen Errungenschaft der Bundesrepublik, vermissen. Politiker warnen vor einem Scheitern des ESM, wenn ausgerechnet Deutschland den Vertrag nicht ratifizieren würde. Manche sehen für diesen Fall nicht nur die Euro-Zone, sondern das Haus Europa in Gefahr. Auch die Finanzakteure in aller Welt blicken gebannt nach Karlsruhe. Eingeklemmt zwischen den politisch Mächtigen und den scheinbar allmächtigen Märkten - das wirft die Frage auf: Ist das Verfassungsgericht wirklich frei in seiner Entscheidung? Frei, obwohl die Richter doch bei einem »Nein« zum ESM um die möglichen Konsequenzen wissen - ja, sie ganz sicher nicht minder fürchten müssten als jeder andere Europäer. Frei, obwohl sie bei einem »Ja« an sich selbst zweifeln müssten? Waren sie es doch, die mit ihrem Lissabon-Urteil 2009 nach eigener Aussage eine »rote Linie« gezogen hatten. Und Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle selbst hatte im vergangenen September mit Blick auf die weitere europäische Integration erklärt: »Ich denke, der Rahmen ist weitgehend ausgeschöpft.« Gibt also das Gericht mit seinem Urteil wenn nicht den Euro, so doch sich selbst auf? Oder findet Karlsruhe einen anderen, einen dritten Weg? Einen Richterspruch, der es der Politik erlaubt, weiter an Europa zu bauen, sie aber zwingt, den Kerngedanken der Demokratie, die Herrschaft des Volkes, wieder stärker in den Blick zu nehmen? Wenn ja, wären Andreas Voßkuhle und seine Kollegen zu beglückwünschen. Und wir um unser Verfassungsgericht einmal mehr zu beneiden.
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