Westfalen-Blatt: das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Armut und Reichtum:
Bielefeld (ots)
Streiche: »Privatvermögen sind sehr ungleich verteilt.« Setze: »Hinter diesen Durchschnittswerten steht eine sehr ungleiche Verteilung der Vermögen.« Die vermeintliche »Fälschung« (Andrea Nahles/Bernd Riexinger) des Regierungsberichtes über Vermögen und Einkommen in Deutschland gerät zur Wortklauberei, je intensiver man die 548 Seiten studiert. Der gestern vom Kabinett vorgelegte »Armuts- und Reichtumsbericht«, so die zur Kampfformel hochgejazzte offizielle Bezeichnung, bietet eben mehr als Vorwort und Kurzthesen für den schnellen Leser. Der Bericht liefert vor allem ein außergewöhnlich reiches Faktenangebot. Jawohl. Es gibt Armut in Deutschland, viel zu viel und viel zu lange andauernd. Darüber besteht kein Dissens. Erst nach dieser Feststellung kann die politische Debatte darüber folgen, ob Mindestlöhne helfen, ob Reichensteuern weiterführen oder ob sogar das gesamte System, sprich die soziale Marktwirtschaft, abgeschafft werden muss. Aber stopp: Der gestern verspätet vorgelegte, aber um Daten aus dem Jahr 2011 aktualisierte Bericht muss erst einmal genau betrachtet werden. Vorher sollten sich alle Beteiligten besser nicht in die Schützengräben des dräuenden Wahlkampfes stürzen. Die Aussagen der Berichtes sind belastbar, aber nicht aktuell. So stammen die Angaben über die Vermögen aus dem letzten Zensus 2008. Gäbe es regelmäßig Volkszählungen, wüssten wir mehr. Wissenschaftlich genauer belegte Passagen besagen: Bis 2005 ging die Schere zwischen niedrigen und hohen Einkommen immer weiter auseinander. Seitdem hat sich die Verteilung nicht weiter ins Ungerechte verschlechtert, verbessert hat sie sich aber auch nicht. Dieser Befund ist weder alarmierend noch vernachlässigbar. Vor allem aber verbietet er Behauptungen, die Armen würden immer ärmer und die Reichen immer reicher. Dies nachzuplappern ist nach Prüfung der Faktenlage nur noch peinlich. Dennoch hören wir genau solche Sätze von vielen Politikern, darunter sogar solche, die sich anschicken, höchste Staatsämter bekleiden zu wollen. Wer jeder Statistik misstraut, auch der sieht sich bestätigt. Denn: Armut wird stets als ein fester Prozentsatz vom Durchschnittseinkommen definiert. Einmal angenommen, Deutschlands Superreiche kehrten mit ihrem gesamten Vermögen zurück, so würde die Zahl der Armen ansteigen - ohne dass sich an den Lebensumständen ganz unten irgend etwas geändert hätte. Es ist richtig, dass über soziale Gerechtigkeit gestritten wird. Dabei sollte allerdings weniger Klassenkampf ums Ganze geführt und Reichtum diffenrenzierter betrachtet werden. Ein klasse Kampf wäre es, wenn unaufgeregt Lösungen für Alleinerziehende, für Frauen in Teilzeit und Mini-Löhner vor der Altersarmut gefunden würden. Peer Steinbrück hat den Bericht genauer gelesen. Er hat seine Steuerpläne für die Reichen leicht entschärft.
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