Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Ägypten
Bielefeld (ots)
14 Millionen Ägypter sind nach Armeeangaben am Sonntagabend zwischen Alexandria und Assuan auf die Straße gegangen. Das war vielleicht schon der Anfang vom Ende der Muslimherrschaft. Tausende lieferten sich nach Mitternacht gewaltsame, bürgerkriegsähnliche Straßenkämpfe mit Regierungsanhängern. 16 Tote und 780 Verwundete wurden offiziell gezählt. Das wahre Ausmaß der zweiten schweren Unruhewelle seit Jahresbeginn dürfte noch größer sein. Heute Nachmittag läuft ein Ultimatum der Protestbewegung »Tamarud« (Rebellion) aus, das die Regierung nie und nimmer annimmt. Deshalb drehte sich die Spirale der Eskalation im Laufe des Montags dramatisch weiter. Jetzt verlangen die Militärs Ruhe als erste Bürgerpflicht auf beiden Seiten. Ein von der Regierung noch schnell verfügter Rücktritt von fünf Ministern aus dem 34-köpfigen Kabinett in Kairo konnte den Volkszorn auf die Islamisten auch nicht mehr dämpfen. Die Aktion wirkt eher hilflos - genauso dilettantisch wie die Muslimbrüder in den vergangenen zwölf Monaten versucht haben, das Riesenland am Nil zu regieren. Während große Teile des Volkes angstvoll zuhause geblieben waren, gingen am ganzen Wochenende Millionen andere auf die Straße. Dort forderten sie weniger Bevormundung und lebten ihre ganze Wut gegen Mohammed Mursi aus. Der frühere Vorsitzende der Muslimbrüder sollte als Präsident eigentlich Repräsentant oder - arabisch blumig - der »Vater« aller Ägypter sein. Das Gegenteil ist der Fall. Zum ersten Jahrestag seiner Wahl steht Mursi als Spalter und Scharfmacher da. Ähnlich wie der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan fühlt er sich mehr dem Aufbau eines Gottestaates verpflichtet als seinem Staatsvolk in Gänze. Nicht nur Christen stehen am Nil unter Druck. Sie allein wären gar nicht in der Lage, das Land dermaßen zu erschüttern. Im gleichen Maße wie Regierung und Muslimbrüder die Kopten zu Sündenböcken machen, wettern sie gegen angeblich »ungläubige« Muslime, Schiiten und Atheisten. Sie alle sollen Schuld daran sein, dass die neue Führung die alten Probleme vom Schlendrian über die Korruption bis zu den neuen Scharia-Vorschriften nicht lösen beziehungsweise nicht umsetzen können. Hetze statt fairer Regierung ließen zu, dass in Gizeh noch wenige Tage vor den angekündigten Massenprotesten mehrere Schiiten, darunter ein Geistlicher, von einer aufgewiegelten Nachbarschaft erschlagen wurden. Die Sache hat Methode, leitet aber auch ihr eigenes Scheitern ein. Ägypten nährt die furchtbare Erkenntnis, dass es heute noch Pogrome gibt. Zugleich wird deutlich, dass immer mehr freie Geister die Methode Mob, das Aufputschen der Massen zwecks Ruhigstellung, durchschauen.
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