Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Großen Koalitionen
Bielefeld (ots)
Das eine alles entscheidende »Kleine Handbuch praktischer Politik« steht in keinem Buchkatalog. Dabei trägt es mancher in Berlin gerade jetzt unter dem Arm. Die Sondierungen für neue Bündnisse haben erst begonnen, aber schon wird fleißig in besagtem Büchlein geblättert. Wem nützt welcher Winkelzug? Welche Erfahrungen wurden in dieser oder jener Konstellation gesammelt? Gut so. Man sollte genauer nachlesen. Denn eine Reihe von politischen Irrtümern geistert durch die Republik, die dringend klargestellt gehört. Weil Sigmar Gabriel im Frust einer Wahlnacht behauptete, Angela Merkel habe schon einen Koalitionspartner ruiniert, sind gleich mehrere Hinweise wichtig: Neben der FDP 2013 ging auch die SPD 2009 mit dem historisch schlechtesten Ergebnis aus einer Koalition mit der Union hervor. Dennoch kein Lehrsatz. Denn 1966 bis 1969 war es genau umgekehrt. Damals entwickelte sich die Sozialdemokratie als Juniorpartner zu einer Regierungspartei, die Deutschland bis 1982 erfolgreich regieren und nachhaltig prägen sollte. Eine zweite Legende besagt, die Zeit der Volksparteien sei vorbei. Falsch. Die Union erzielte am 22. September deutlich mehr als 40 Prozent. Und das ist auch der Wert, mit dem Willy Brandt 1969 aus der ersten Großen Koalition hervorging. Fazit: Auch für die SPD ist nichts unmöglich. Und wer hätte gedacht, dass die Grünen mitten in der Energiewende thematisch abgemeldet sind? Die einzige erfolgreiche Neugründung einer Partei, die über Jahrzehnte Standing beweist, schafft es nicht zum Mehrthemenanbieter. Und noch so eine Fehleinschätzung in der aktuellen Debatte. Angela Merkel hat selbst in einem Bündnis mit Gabriel den SPD-beherrschten Bundesrat noch nicht im Griff. Wer die neuen Blöcke genau betrachtet, stellt fest: Großkoalitionäre Vorhaben würde genauso im Vermittlungsausschuss landen, wie das mit den schwarz-gelben der Fall ist. Ein anderer Lehrsatz aus dem »Kleinen Handbuch praktischer Politik« muss allerdings bis zur Europawahl aus dem Verkehr gezogen werden. Er lautet: Jede politische Neugründung hat - mit Ausnahme der Grünen - auf Bundesebene nur einen Schuss, bevor sie wie wieder in der Bedeutungslosigkeit versinkt. Die Alternative für Deutschland könnte diese vermeintliche Gewissheit umstoßen. Bliebe noch die Räuberpistole, Gabriel werde Merkel mit Rot-Rot-Grün erpressen - so von Philipp Rösler in die Welt gesetzt. Dabei haben SPD und Grüne seit 2009 in Crossover-Gesprächen versucht, mit der Linkspartei Absprachen zu treffen. Alle Gespräche sind gescheitert - so sie überhaupt zustande kamen. Unterdessen spielt Horst Seehofer die SPD gegen die Grünen aus. Das gestern gezielt ausgeplauderte Dreiertreffen von CDU und CSU mit der SPD während noch mit den Grünen sondiert wird, spricht für sich. Auch wenn das Verfahren nun gar nicht lehrbuchmäßig ist.
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