Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Türkei
Bielefeld (ots)
Seit dem Osterwochenende hat Europa nicht gerade an Stabilität gewonnen. Das krasse Gegenteil ist der Fall. Erdogan und seine »Ja-Sager« haben ihr Ziel erreicht. Der knappe Sieg beim Verfassungsreferendum bedeutet für den türkischen Präsidenten einen enormen Machtzuwachs. Aber gleichzeitig hat die fragwürdige Abstimmung das Land in ein noch größeres Chaos geführt.
Die Türkei ist tief gespalten. Etwas mehr als 50 Prozent folgen Erdogans Kurs. Aber: Fast genau so viele sind dagegen. Das zeigt den ganzen Wahnsinn. Über derart weitreichende Entscheidungen dürfte niemals mit einfacher Mehrheit abgestimmt werden. Das war schon beim Brexit falsch. Keine 24 Stunden nach dem Pleiten- und Pannen-Referendum soll der Ausnahmezustand erneut verlängert werden. Erdogan will damit Stärke zeigen, doch in Wahrheit ist es ein Zeichen von Schwäche. Weil das Ergebnis so knapp ist, wird es dem Machthaber - zumindest langfristig betrachtet - eher schaden als nützen. Ein Sieg, der keiner ist.
Wie geht es nun weiter? Erdogan hat zwar auch nach der Wahl die Wiedereinführung der Todesstrafe angekündigt. Aber das wird aller Voraussicht nach eine leere Drohung bleiben. Denn dieser harte Schritt würde endgültig dafür sorgen, dass die Tür zur EU verschlossen bliebe. Schlimmer noch: Die jetzt schon starken Handelsbeziehungen der EU-Länder mit der Türkei würden wohl beendet werden. Das kann und das wird sich der türkische Präsident nicht erlauben. Auf das Geld als Gegenleistung für das Flüchtlingsabkommen ist er ohnehin angewiesen. Erdogan braucht die EU. Aber die EU braucht auch ihn und die Türkei. Nicht nur wegen der geopolitisch wichtigen Lage an der Schnittstelle von Nahem Osten, Kaukasus und Südosteuropa, sondern auch konkret eben wegen des Flüchtlingsabkommens. Führt Erdogan die Todesstrafe ein, ist das Tischtuch zerschnitten. Selbst ein Referendum über die Wiedereinführung wäre ein fataler Bruch mit den europäischen Werten, der ganz gewiss nicht ohne gravierende Folgen bleiben würde. Die Frage muss aber auch umgekehrt gestellt werden: Wie viel Interesse hat die Türkei selbst eigentlich noch an einer EU-Mitgliedschaft? Sollte Erdogan wie bisher nur an wirtschaftlichen Vorteilen für sein Land interessiert sein und gleichzeitig alle europäischen Regeln und Werte mit Füßen treten, wird das auf Dauer nicht funktionieren.
Denkwürdig war das Referendum auch wegen des Abstimmungsverhaltens der Deutsch-Türken. Es ist schwer nachzuvollziehen, dass eine große Mehrheit der Türken in Deutschland für ein politisches System stimmt, in dem sie selbst nicht leben wollen. Wegen ihres offenbar fehlenden Demokratieverständnisses hagelt es bereits Kritik. Die AfD will die »Ja-Sager« sogar zurückschicken. Falsch! Wer das für richtig hält, lässt selbst keine Demokratie zu. Wahlfreiheit ist ein hohes Gut, das für alle gelten sollte. Auch bei diesem höchst umstrittenen Referendum, das von Anfang an von so vielen Mängeln geprägt war.
Somit ist Diplomatie gefragt. Den Gesprächsfaden zur Türkei aufrecht zu erhalten und die Tür nicht zuzustoßen. Das ist der einzig richtige, wenn auch mühselige Weg. Alles andere wäre Aktionismus und würde die ohnehin schon angespannten Beziehungen auf eine noch härtere Probe stellen.
Europa hat einen weiteren Dämpfer erlitten. Es geht Schlag auf Schlag. Am Sonntag blicken wir nach Frankreich zum ersten Durchgang bei den Präsidentschaftswahlen. Auch hier könnte es denkbar knapp werden. Nach dem Referendum steht erneut einiges auf dem Spiel. Nicht nur für Frankreich, sondern für ganz Europa.
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