Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Thüringen
Bielefeld (ots)
Am Sonntag kommt der Orkan nach Nordrhein-Westfalen, über Thüringen fegt er schon seit Tagen hinweg und hat mächtig Kleinholz hinterlassen. Trümmer finden sich in der ganzen Republik, vor allem im politischen Berlin. Der neue thüringische FDP-Ministerpräsident Thomas Kemmerich ist noch da, aber irgendwie auch schon nicht mehr, CDU-Fraktionschef Mike Mohring will spätestens im Mai weg sein, und die Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Christian Lindner (FDP) wandeln bedrohlich nah am Abgrund entlang.
Die Ereignisse von Erfurt haben auf erschreckende Weise vor Augen geführt, was fehlt, wenn sich das Bürgerliche verliert. Wenn sich so nur vermeintlich altmodische Begriffe wie Anstand, Moral und Sitte in ein einziges großes Nichts auflösen. Wenn alles, was nicht illegal ist, schon legitim sein soll. Dann tritt ein Schaden ein, der nicht mit Krisentreffen und ein paar wetterwendischen Statements behoben werden kann. Und auch nicht mit Rücktritten und Neuwahlen.
CDU und FDP geben viel darauf, "bürgerliche Parteien" zu sein. Dabei ist der Begriff des "Bürgerlichen" gar nicht leicht zu fassen. Funktioniert die herabwürdigende Formulierung "Spießbürger" noch recht gut, so ist eine schlüssige positive Definition schon weitaus schwieriger zu finden. Hinzu kommt, dass in der Zuschreibung oft etwas Exklusives, Ausgrenzendes mitschwingt. Wer sich bürgerlich nennt, muss aufpassen, nicht in den Verdacht zu geraten, andere automatisch als nicht-bürgerlich abzuqualifizieren.
Den Wert des Bürgerlichen schmälert das keineswegs. Doch steht im Wort, wer immer sich auf den Begriff beruft - wie es das WESTFALEN-BLATT ja selbst tut. Und unser Staatswesen braucht den Citoyen, der in der Tradition und im Geist der Aufklärung aktiv und eigenverantwortlich das Gemeinwesen mitgestaltet und Werte wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit kennt und sie auch lebt.
Anstand, Moral und Sitte - mit diesen Werten ist in dieser Woche zu oft gebrochen worden. Der 5. Februar 2020 markiert eine Zäsur in der Geschichte unseres Landes, auf die man nicht stolz sein kann. Und plötzlich steht die Selbstverständlichkeit zur Disposition, dass Demokraten nur mit Demokraten gemeinsame Sache machen können. Gewiss, in den zurückliegenden 70 Jahren hat unsere Republik schon so manche Krise überstanden. Nun allerdings braut sich wieder gehörig etwas zusammen. Und im Sturm stehen wir alle. Das Bürgerliche braucht dringend neue und entschlossene Fürsprecher - in Erfurt, in Berlin und überall in unserem Land.
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