AOK-Gesundheitsatlas: Fast eine Million Menschen in Westfalen-Lippe leiden unter Depressionen - große regionale Unterschiede
Dortmund (ots)
Depressionen haben in Westfalen-Lippe in den letzten Jahren deutlich zugenommen und gehören zu den größten Herausforderungen im Gesundheitswesen. Das geht aus dem neuen 'AOK-Gesundheitsatlas Depressionen' des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hervor, den die AOK heute in Dortmund vorstellte. Danach waren in Westfalen-Lippe 988.000 Menschen ab zehn Jahren in 2022 deshalb in ärztlicher Behandlung, das entspricht 13,2 Prozent der Bevölkerung. Besorgniserregend ist, dass die Anzahl der Betroffenen in den vergangenen fünf Jahren kontinuierlich angestiegen ist und nunmehr einen Höchstwert erreicht hat. Dabei ist besonders auffällig, dass es zwischen den Regionen in Westfalen-Lippe deutliche Unterschiede gibt. "Depressionen zählen zu den größten Herausforderungen unserer Zeit. Sie verursachen für die Betroffenen nicht nur persönliches Leid und eine erhebliche Einschränkung ihrer Lebensqualität, sondern auch hohe Kosten für das Gesundheitssystem und die Wirtschaft", sagte Tom Ackermann, Vorstandsvorsitzender der AOK NordWest. Der AOK-Chef wies darauf hin, dass die Stigmatisierung von Depressionen nach wie vor ein großes Problem sei. "Obwohl die Zahl der diagnostizierten Fälle steigt, suchen viele Betroffene aus Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung oder beruflichen Nachteilen immer noch zu selten professionelle Hilfe."
Deutliche regionale Unterschiede
Der AOK-Gesundheitsatlas zeigt bei der Depressions-Häufigkeit deutliche Unterschiede zwischen den Kreisen und kreisfreien Städten in Westfalen-Lippe: Während in der Stadt Münster 9,8 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner wegen Depressionen in ärztlicher Behandlung waren, lag der Anteil in Hagen bei 16,3 Prozent. Im Vergleich zu anderen Bundesländern liegt der Anteil der wegen Depressionen behandelten Personen in Westfalen-Lippe mit 13,2 Prozent über dem bundesweiten Durchschnitt von 12,5 Prozent.
Krankheitshäufigkeit steigt im Alter an - Frauen stärker betroffen
Bereits Kinder und Jugendliche ab zehn Jahren sind wegen Depressionen in ärztlicher Behandlung. Die Krankheitshäufigkeit steigt mit zunehmendem Alter deutlich an. Frauen sind in fast allen Altersgruppen stärker betroffen als Männer. Bei den 60 bis 64-Jährigen ist jede vierte Frau und fast jeder sechste Mann betroffen. In den Altersklassen zwischen 65 und 74 Jahren ist dann ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Nach diesem "Knick" steigen die Prävalenzen jedoch weiter deutlich an. Der Prävalenzgipfel wird bei den 75 bis 79-jährigen Frauen mit 29,8 Prozent erreicht. Bei den Männern wird die höchste Prävalenz mit 16,9 Prozent in der Altersgruppe der 80 bis 84-Jährigen gemessen.
Hohe Krankheits- und Produktions-Ausfallkosten durch Depressionen
Die Relevanz der Erkrankung zeigt sich auch bei den volkswirtschaftlichen Kosten, die im AOK-Gesundheitsatlas analysiert werden. So entfielen nach der letzten vorliegenden Krankheitskosten-Statistik des Statistischen Bundesamtes 9,5 Milliarden Euro auf Depressionen. Dies entspricht 2,2 Prozent aller Krankheitskosten. Depressionen haben somit aus Kostenperspektive eine höhere Relevanz als Herzinsuffizienz (7,4 Mrd. Euro) oder Diabetes mellitus (7,4 Mrd. Euro).
Zusätzlich zu den direkten Krankheitskosten entstehen indirekte Kosten durch krankheitsbedingte Fehltage. Auf die 34,5 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Jahr 2022 hochgerechnet ergeben sich daraus 53,8 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage und Produktions-Ausfallkosten in Höhe von etwa 6,9 Milliarden Euro. Der Anteil der Depressionen an den gesamten volkswirtschaftlichen Kosten durch Arbeitsunfähigkeit beläuft sich somit auf 7,7 Prozent.
Beschäftigte in der Haus- und Familienpflege mit hohen Ausfalltagen
Allein nur bei den bei der AOK NordWest in Westfalen-Lippe versicherten Beschäftigten in 2023 fielen fast 2,3 Millionen Fehltage wegen Depressionen an. Die Dauer je Fall lag bei 42 Tagen. Am häufigsten betroffen von Depressionen waren Beschäftigte aus Berufen in der Haus- und Familienpflege, Sozialverwaltung & -versicherung, Bus- und StraßenbahnfahrerInnen sowie Berufe in der Altenpflege und Kinderbetreuung & -erziehung. "Unabhängig davon, welchen Einfluss berufliche Belastungen auf die Entstehung einer Depression haben, bieten Instrumente wie Fehlzeiten-Analysen oder Befragungen zur Gesundheit der Mitarbeitenden im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements die Möglichkeit, die Relevanz im eigenen Unternehmen zu erkennen und den Betroffenen entsprechende Unterstützung anzubieten. Angesichts des Fachkräftemangels kommt gerade auch dem Betrieblichen Eingliederungsmanagement nach einer Depression eine wichtige Rolle zu", betonte Ackermann.
Risikofaktoren für Depressionen
Die Ursachen von Depression sind abschließend nicht aufgeklärt. Es gibt eine Reihe von Risikofaktoren, die die Entstehung der Krankheit beeinflussen können. Neben einer genetischen Veranlagung gehören dazu etwa Alkoholabhängigkeit und Zigarettenkonsum, langanhaltende chronische Erkrankungen, hormonelle Veränderungen bei der Geburt eines Kindes oder kritische, mit Stress verbundene Lebensereignisse wie beispielsweise Beziehungskrisen, Todesfälle, berufliche Enttäuschungen oder Traumata durch Gewalt, Krieg oder Missbrauch. Im AOK-Gesundheitsatlas werden auch die Zusammenhänge zwischen Depressionen und Risikofaktoren in den Regionen Westfalen-Lippes untersucht. Dazu gehören Angststörungen und Rückenschmerzen.
Regionen mit vielen Rückenschmerz-Patientinnen und Patienten stärker betroffen
Die Analyse bestätigt die aus der wissenschaftlichen Literatur bekannten Zusammenhänge, wonach in Regionen mit einem hohen Anteil von Personen mit Rückenschmerzen auch mehr Menschen von Depressionen betroffen sind. Dies betrifft Bochum, Bottrop, Dortmund, Ennepe-Ruhr-Kreis, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Märkischer Kreis Recklinghausen und Unna.
Zusammenhang zwischen Angststörungen und Depressionen
Außerdem lässt sich ein Zusammenhang zwischen Depressionen und Angststörungen ableiten. Danach sind in Regionen mit einem hohen Anteil von Menschen mit Angststörungen auch mehr Personen von Depressionen betroffen. Das trifft vor allem auf Bochum, Bottrop, Dortmund, Ennepe-Ruhr-Kreis, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Märkischer Kreis, Recklinghausen und Unna zu.
Depressionen häufiger in Regionen mit materieller und sozialer Benachteiligung
Der AOK-Gesundheitsatlas hat ebenfalls analysiert, dass materiell und sozial benachteiligte Menschen (Deprivation) häufiger an Depressionen erkranken als Menschen mit einem hohen sozialen Status. Dies betrifft Bochum, Bottrop, Dortmund, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Märkischer Kreis, Recklinghausen und Unna.
Konkrete Diagnostik und gezielte Behandlung
"Je früher eine Depression erkannt wird, umso besser sind die Heilungschancen. Schon beim Verdacht auf eine Depression sollten Betroffene frühzeitig ärztliche Hilfe in An-spruch nehmen", so Ackermann. Dabei ist eine genaue Diagnosestellung erforderlich. So müssen neben Risikofaktoren auch die Krankheitsgeschichte des Patienten berücksichtigt werden. Als medizinische Leistungen stehen die Psychotherapie oder auch eine medikamentöse Therapie zur Verfügung. Medikamente gegen Depressionen werden als Antidepressiva bezeichnet. Im Jahr 2023 wurden bundesweit 21, 8 Mio. Verordnungen von Antidepressiva für GKV-Versicherte in Höhe von 673 Millionen Euro ausgestellt. Nach Empfehlung der Nationalen Versorgungsleitlinie sollten diese Medikamente bei leichten Depressionen nicht die erste Wahl darstellen, da in diesem Fall das Nutzen-Risiko-Verhältnis zwischen Wirkung und Nebenwirkung negativ ausfällt.
Begleitende Therapieoptionen
Bewährt hat sich das interaktive Trainingsprogramm moodgym vom Anbieter ehubHealth in Kooperation mit der AOK. Das Selbsthilfeprogramm hilft Betroffenen bei der Vorbeugung und Verringerung von depressiven Symptomen. Das Programm ist kostenlos und frei zugänglich, ersetzt aber keine ärztliche oder psychotherapeutische Diagnostik oder Behandlung. moodgym beruht auf grundlegenden Methoden und Erkenntnissen der kognitiven Verhaltenstherapie, unter anderem der Bearbeitung und Modifikation von ungünstigen Denkmustern sowie der Vermittlung von Techniken zur Stressbewältigung und Entspannung. Seit dem Start im Jahr 2017 sind allein beim Programm moodgym insgesamt knapp 175.000 Registrierungen von Nutzerinnen und Nutzern zu verzeichnen.
Hilfe für Angehörige mit dem AOK-Familiencoach Depression
Ein weiteres Angebot ist der AOK-Familiencoach Depression, der Angehörige von Erwachsenen mit unklaren Depressionen Hilfestellungen gibt. Damit sollen sie den Alltag mit einem depressiv erkrankten Mitmenschen besser bewältigen können. In interaktiven Trainingsmodulen werden Informationen zur Verfügung gestellt, wie Angehörige in schwierigen Situationen gut auf sich selbst achten, Alltagsprobleme besser bewältigen und die Beziehung zu dem erkrankten Menschen stärken können. Das Online-Selbsthilfeprogramm steht kostenlos, anonym und zeitlich unbegrenzt für alle Interessierten zur Verfügung.
Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA)
Helfen bei Depressionen können auch Internet- und mobilbasierte Interventionen, auch IMIs genannt. Das sind Anwendungen, die online eingesetzt werden können. Die Programme basieren auf Selbsthilfe, Selbstmanagement, Monitoring oder dienen zur Unterstützung von Behandlungen. Dazu gehören auch die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA). Bei allen DIGAs zeigten sich nach drei Monaten statistisch signifikante und klinisch relevante Verbesserungen der depressiven Symptomatik. Die Kostenübernahme durch die GKV erfolgt nach ärztlicher Verordnung.
Stigmata abbauen und Wissenslücken schließen
Obwohl das Krankheitsbild immer mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt, bleibt das Bild über die Betroffenen oft von Vorurteilen und Stigmata geprägt. Das kann Patientinnen und Patienten stark belasten. "Viele Betroffene suchen zu spät oder gar keine Hilfe, was die Erkrankung nur verschlimmert. Mit unserem AOK-Gesundheitsatlas möchten wir mit dazu beitragen, Wissenslücken beim Thema Depressionen zu schließen, ein Bewusstsein für die große Bedeutung dieser Erkrankung zu schaffen und Berührungsängste abzubauen", so Ackermann.
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