Studie zur Geschichte des Warenhauskonzerns Hertie im Nationalsozialismus
Frankfurt/Main (ots)
Mit dem Buch Verfolgt, "arisiert", wiedergutgemacht? Wie aus dem Warenhauskonzern Hermann Tietz Hertie wurde legen die Professoren Johannes Bähr und Ingo Köhler eine wissenschaftlich-historische Untersuchung zur "Arisierung" des Warenhauskonzerns Hermann Tietz in der NS-Zeit und zum "Wiedergutmachungsprozess" in den Nachkriegsjahren vor. Den Auftrag zur Studie erteilte die Gemeinnützige Hertie-Stiftung, mitfinanziert und unterstützt wurde sie von der Karg'schen Familienstiftung. Die Autoren präsentieren die Ergebnisse in einer Buchvorstellung am 5. Dezember 2023 im Jüdischen Museum Frankfurt. Ab dem 6. Dezember ist die Studie im Buchhandel erhältlich.
Der Familienkonzern Hermann Tietz gehörte Anfang des 20. Jahrhunderts zu den Pionieren der deutschen Warenhausbranche. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde die jüdische Inhaberfamilie durch ein Bankenkonsortium aus dem Unternehmen gedrängt und aus Hermann Tietz wurde Hertie. Der langjährige Einkaufsleiter des Unternehmens und spätere Initiator der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, Georg Karg, wurde unter Kontrolle der Banken zunächst Geschäftsführer. Ab 1937 übernahm er schrittweise die Anteile von Hertie. Nach dem Krieg baute er das zerstörte Unternehmen wieder auf und machte es zu einer der erfolgreichsten Warenhausketten der Nachkriegszeit.
Lange Zeit lag die belastete Vergangenheit dieser großen Kaufhausmarke des westdeutschen Wirtschaftswunders im Dunkeln. Johannes Bähr und Ingo Köhler beleuchten in der Studie die antisemitische Hetze gegen die Inhaber des Hermann Tietz-Konzerns, die Familien Tietz und Zwillenberg, die "Arisierung" ihres Firmenvermögens sowie das Schicksal beider Familien nach der Verdrängung aus dem Unternehmen. Sie untersuchten weiterhin den Werdegang des Hertie-Konzerns bis zu den Auseinandersetzungen um Restitution und Entschädigung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Gestützt auf vielfältige Quellen, darunter bislang nicht zugängliche Dokumente, entsteht ein detailliertes Bild einer Warenhausgeschichte im Spannungsfeld von Verfolgung, Verlust und Verantwortung.
Der Vorstand der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung beauftragte die GUG im November 2020 mit der Studie und vereinbarte mit ihr vertraglich wissenschaftliche Freiheit und Unabhängigkeit sowie die Veröffentlichung der Ergebnisse.
Wesentliche Ergebnisse der Studie
Die Familie Tietz/Zwillenberg wurde nach der NS-Machterlangung schnell aus ihrem Warenhauskonzern gedrängt. Ihr Ausscheiden aus der Hermann Tietz OHG, zu der über 30 Konzerngesellschaften gehörten, gilt als eine der größten "Arisierungen" der Anfangsjahre des NS-Regimes. Die Studie zeigt, wie die Inhaberfamilie 1933 unter Druck der im Warenhaussektor besonders radikalen antisemitischen Anfeindungen geriet und genötigt wurde, den Konzern in einem Auseinandersetzungsvertrag vom August 1934 abzugeben. Dargelegt wird auch, welch hohe Verluste die Familie dabei erlitt. Anders, als später behauptet wurde, kann von einer "fairen Behandlung" nicht die Rede sein.
Die Firma Hermann Tietz wurde von der Hertie Kaufhaus-Beteiligungs GmbH übernommen, die eigens dafür von Banken gegründet worden war, und unter dem Namen Hertie Waren- und Kaufhaus GmbH weitergeführt. Hertie-Geschäftsführer Georg Karg profitierte als Zweiterwerber von der "Arisierung", da er die Anteile des Unternehmens ab 1937 den Banken abkaufen konnte. In der Studie wird erstmals beschrieben, wie ihm dies gelang, und wie er zudem kleine Kaufhäuser aus jüdischem Eigentum übernahm.
Die Wege der Familien Tietz und Zwillenberg trennten sich mit der Emigration. Die Familie Tietz emigrierte 1937 in die Schweiz und später weiter nach Kuba und in die USA. Hugo Zwillenberg kam 1938 in KZ-Haft, konnte dann mit seiner Frau und seinen Kindern in die Niederlande flüchten, wo die Familie 1943 nur knapp der Deportation entging. Das in Deutschland verbliebene Vermögen wurde den Familien Tietz und Zwillenberg zu einem großen Teil von den Behörden des NS-Staats geraubt.
Die Studie beschränkt sich nicht allein auf den "Arisierungsfall", sondern bezieht die Restitutions-verfahren in der Nachkriegszeit mit ein, um das historische Bild zu komplettieren. Hertie bestritt zunächst die Ansprüche der Familien Tietz und Zwillenberg, war aber wie diese an einer raschen Regelung der Ansprüche interessiert, um Rechtssicherheit für den Neubeginn des Konzerns zu erlangen. Im Oktober 1949 einigten sich beide Seiten auf einen Vergleich, der ungewöhnliche Bestimmungen enthielt. Drei Warenhäuser wurden rückübertragen und anschließend unter Umsatzbeteiligung der Inhaber an Hertie verpachtet. Bis Anfang der 1970er Jahre blieben beide Seiten dadurch geschäftlich verbunden. Die Studie gibt einen vertieften Einblick in diese bislang unbekannte Begegnungsgeschichte zwischen dem ehemaligen Profiteur Karg und den Opfern der antijüdischen Verdrängung. Unabhängig aller rechtlichen und finanziellen Vereinbarungen blieb die mangelnde Einsicht, moralische Verantwortung für das erlittene Unrecht zu übernehmen, das größte Manko von Hertie im Umgang mit den Verfolgten. Dieses Versäumnis bestand über das Ende des Hertie-Konzerns 1993 hinaus.
Verantwortung der Hertie-Stiftung
"Wir sprechen der GUG unseren ausdrücklichen Dank aus für ihre Arbeit", sagt Frank-Jürgen Weise, Vorstandsvorsitzender der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung: "Es wird ersichtlich, wie unser Stifter unternehmerisch von den Auswirkungen des politisch initiierten "Arisierungsprozesses" profitierte. Auch in der Restitution zeigte sich Karg als nüchterner Geschäftsmann, moralische Aspekte fanden hier keine Beachtung, was aus heutiger Sicht verstörend ist." Weise fügt hinzu: "Die Gemeinnützige Hertie-Stiftung ist aus dem unternehmerischen Erfolg in der Nachkriegszeit entstanden, die Grundlagen dafür hat Georg Karg aber früher geschaffen. Deshalb gehört zu unserer Verantwortung nicht nur die Aufarbeitung und Veröffentlichung dieser Erkenntnisse, sondern auch die Anerkennung des Unrechts, das der Familie Tietz widerfahren ist, sowie das Bewahren ihres Andenkens. Wir werden mit den Ergebnissen offen und transparent umgehen und als Demokratiestiftung unser Erbe wie bisher dazu nutzen, den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland zu fördern und Antisemitismus zu bekämpfen."
Über die Autoren
Johannes Bähr, geb. 1956, studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Freiburg i. Br. und München. Er wurde 1986 zum Dr. phil. promoviert und habilitierte 1998 an der Freien Universität Berlin. Heute lehrt er als apl. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Ingo Köhler, geb. 1971, studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Bielefeld. Er promovierte 2003 zum Dr. phil. an der Ruhr-Universität Bochum und wurde 2012 an der Georg-August-Universität Göttingen habilitiert. Seit 2021 ist er Geschäftsführer des Hessischen Wirtschaftsarchivs in Darmstadt und lehrt als apl. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte.
Hier finden Sie die Zusammenfassung der Studienergebnisse: www.ghst.de/hertie-vorgeschichte
Über die Gemeinnützige Hertie-Stiftung
Die Arbeit der Hertie-Stiftung konzentriert sich auf zwei Leitthemen: Gehirn erforschen und Demokratie stärken. Die Projekte der Stiftung setzen modellhafte Impulse innerhalb dieser Themen. Im Fokus stehen dabei immer der Mensch und die konkrete Verbesserung seiner Lebensbedingungen. Die Gemeinnützige Hertie-Stiftung wurde 1974 von den Erben des Kaufhausinhabers Georg Karg ins Leben gerufen und ist heute eine der größten weltanschaulich unabhängigen und unternehmerisch ungebundenen Stiftungen in Deutschland. Der Name "Hertie" geht zurück auf Hermann Tietz, Mitbegründer des gleichnamigen Warenhauskonzerns zum Ende des 19. Jahrhunderts.
Über die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte (GUG)
Bei der GUG handelt es sich um eine international anerkannte, wissenschaftliche Einrichtung, die auf unternehmenshistorische Forschung spezialisiert ist. 1976 gegründet, vernetzt sie Forscher:innen, Archive und Unternehmen, schafft Raum für wissenschaftliche Diskussion in Form von Symposien, Arbeitskreisen und Workshops. Darüber hinaus vermittelt die GUG historische Inhalte einer interessierten Öffentlichkeit sowie durch spezielle Angebote an Student:innen und Schüler:innen. Seit Jahrzehnten führt die GUG Forschungsprojekte unterschiedlichen Umfangs und zu verschiedenen Themen mit ausgewiesenen Expert:innen durch.
Pressekontakt:
Gemeinnützige Hertie-Stiftung, Julia Ihmels, Abt. Kommunikation, Mail: ihmelsj@ghst.de |Tel. 069 660756 162
Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, Dr. Andrea Schneider-Braunberger, Mail: ahschneider@unternehmensgeschichte.de |Tel. 069 97203 315
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