Westdeutsche Allgemeine Zeitung

WAZ: Leipzig im Buch-Fieber: Lesen ist gar nicht uncool -Leitartikel von Wolfgang Platzeck

25.03.2007 – 20:32

Essen (ots)

Gut 127 000 Bücherfreunde auf dem Messegelände, das
Rekordergebnis des Vorjahres damit noch übertroffen, zehntausende von
Zuhörern bei den Veranstaltungen von "Leipzig liest": Die Leipziger 
Buchmesse hat ihren Ruf als "größtes europäisches Hörbuchforum" 
eindrucksvoll bestätigt. Messeveranstalter und Verlagsbranche können 
zufrieden sein. Zunächst.
Denn das Jahr ist noch lang für die Branche. Die Entwicklung ist 
von vielen Faktoren abhängig; aus der ungeheuren Popularität der 
Leipziger Veranstaltungen lassen sich nur bedingt Schlüsse ziehen. 
"Für viele Menschen im Osten sind Bücher Luxusartikel", gibt die 
Großkundenbetreuerin eines Verlages zu bedenken, "wenn ich kein Geld 
habe, meinen Kühlschrank zu füllen, dann kaufe ich mir auch kein 
Buch." Anders gefragt: Stürmen gerade deshalb so viele Menschen die 
Lesungen in Leipzig, weil sie hören, erleben, kennenlernen können, 
was sonst außerhalb ihres Geldbeutels liegt? Eine hypothetische 
Frage, in Zahlen bislang nicht zu beantworten.
Leipzig gilt als Gradmesser für das Interesse an Literatur. Das 
ist sicherlich richtig. Das ist aber auch mit Vorsicht zu 
interpretieren, weil Zahlen den Blick verstellen können. Dass diesmal
besonders viele Kinder und Jugendliche den Weg zur Messe fanden, wird
von den Veranstaltern als optimistisch stimmendes Zeichen gedeutet. 
Hatte man doch, Pisa eingedenk, das Thema Bildung zum 
Programmschwerpunkt erhoben. Nur kam die Zielgruppe eben nicht wegen 
der hehren, der hohen Literatur, sondern tummelte sich fast 
ausschließlich bei japanischen und anderen Comics oder bei 
Fantasy-Romanen. Und abends wurde so mancher Lese-Event erst richtig 
cool, als endlich der DJ die Regie übernahm.
Dabei ist man in Leipzig mit der Event-Lesung, mit der 
Inszenierung von Literatur auf keinem schlechten Weg - auch wenn 
Überprüfbarkeit fehlt. Die Strategien und Inhalte der Werbung haben 
sich rasant verändert, die Aufmerksamkeit des potenziellen Kunden 
wird anders gesteuert als noch vor wenigen Jahren. Was für jeden 
x-beliebigen Konsumartikel gilt, gilt auch für die Ware Buch - in 
stärkerem Maße womöglich. Ein Werk, das nicht zur Kenntnis genommen 
wird, das nur in der Auslage verstaubt, ist allenfalls ein 
intellektuelles Konstrukt, hat etwas Autistisches. Zum Kulturgut wird
es einzig und allein durch den Leser. Und wenn dem immer häufiger 
erst durch ein "Event" bewusst gemacht werden kann, dass Lesen nicht 
uncool, sondern das wahre, neue Welten eröffnende Ereignis ist - nun,
dann her mit Pauken und Trompeten.

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