Westfalen-Blatt

Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) kommentiert zum Brüsseler EU-Gipfel:

24.06.2007 – 20:45

Bielefeld (ots)

Nach 36 Stunden Beratungen, Kompromissangeboten,
Vermittlungsversuchen und Vetodrohungen hat der EU-Gipfel doch noch 
die Grundlage für die überfällige Reform der EU-Institutionen 
geschaffen. Damit sind die Jahre der Erstarrung und Resignation in 
der Europäischen Union nach dem Nein der Franzosen und Niederländer 
zum Verfassungsprojekt überwunden. Diese Einigung ist zweifellos ein 
Erfolg für Bundeskanzlerin Angela Merkel, die es verstanden hat, das 
Kompromisspapier für alle 27 Staaten zustimmungsfähig zu machen.
Aber um welchen Preis? Selten sind bei einem EU-Gipfel nationale 
Interessen so hemmungslos ins Feld geführt worden wie jetzt in 
Brüssel. Besonders die Polen haben angesichts des Einigungsdrucks, 
der auf allen Beteiligten lastete, in einer Art und Weise, die an 
Erpressung grenzte, ihre Stimmgewichtung auf weitere Jahre erhalten. 
Die Kaczynski-Zwillinge hatten genau kalkuliert, dass Angela Merkel 
ihnen in der Nacht zum Samstag noch weiter entgegen kommen musste, um
die Grundlage für die EU-Reform im Jahr 2009 noch zu retten.
 Dass die doppelte Mehrheit (55 Prozent der EU-Staaten und 65 Prozent
der Bevölkerung), wenn auch mit Verspätung, kommt, ist ein echter 
Fortschritt. Damit wird es künftig unmöglich sein, dass ein Land 
damit drohen kann, die gesamte EU lahm zu legen, wie das Beispiel 
Polen zeigt. Damit wird auch der Möglichkeit ein Riegel vorgeschoben,
dass ein Land die EU dazu nutzen kann, seine Blockade-Haltung erst 
gegen Höchstpreise aufzugeben.
Feilschen und Schachern um Kompromisse gehörte jedoch schon immer zum
Ritual von EU-Gipfeln. Zu diesen typischen EU-Kompromissformeln 
gehört das von allen mitgetragene Ausscheren der Briten bei der 
Grundrechte-Charta, die für sie nicht bindend sein wird, sowie die 
akzeptierte Bedingung der souveräniätsbewussten Briten, dass der 
künftige EU-Außenminister nur »Hoher Vertreter« heißen darf.
Einen echten Fortschritt stellt auch die Einigung darüber da, dass 
die Geschicke der EU künftig für zweieinhalb Jahre von einem 
gewählten Präsidenten geführt werden. Die Weitergabe der 
Präsidentschaft jeweils nach sechs Monaten an ein anderes Land hat 
die Entwicklung der EU nicht gerade gefördert. Eine wesentliche 
Stärkung der Demokratie innerhalb der EU ist in der Tatsache zu 
sehen, dass das EU-Parlament künftig bei 90 Prozent der Gesetzgebung 
ein Mitentscheidungsrecht hat. Festzuhalten ist auch, dass mit der 
grundsätzlichen Einigung auf die Reform der Institutionen die EU 
nicht nur funktionsfähiger wird, sondern als politisches 
Schwergewicht auch weiterhin in globalen Fragen entscheidend mitreden
kann.
Ein Scheitern des Gipfels hätte die Union der 27 Staaten massiv 
beschädigt. Eine Zweiteilung hätte gedroht. So wäre es durchaus 
vorstellbar gewesen, dass die 18 Staaten, die die urspüngliche 
Verfassung bereits ratifiziert haben, weiter vorangeschritten wären. 
Die anderen EU-Staaten hätten hinterher hinken müssen.

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