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Börsen-Zeitung: Koalition schon am Ende, Leitartikel von Angela Wefers zu den Folgen der Rebellion des SPD-Parteivorstandes gegen den Vorsitzenden Franz Müntefering

Frankfurt (ots)

Die Rebellion des Parteivorstandes der SPD gegen
ihren Vorsitzenden Franz Müntefering kommt einem Erdbeben gleich, das
die gesamte politische Landschaft erschüttert. Auf allen Seiten gibt
es vorerst nur Opfer, die nicht einmal zu beklagen sind. Müntefering
wird nicht mehr für das Amt an der Parteispitze kandidieren, nachdem
der Parteivorstand seinen Favoriten für den Posten des
Generalsekretärs, Kajo Wasserhövel, hat durchfallen lassen. Auch die
Position als Vizekanzler und Arbeitsminister in einer großen
Koalition stand für ihn damit zunächst zur Disposition.
Andrea Nahles, die Siegerin im Gerangel um den
Generalsekretärsposten, wird am Ende Verliererin sein. Wohl kaum kann
sie vor den Parteitag treten und mit der Erklärung: „Seht her! Ich
bin es, die euren Parteivorsitzenden gestürzt hat“ um die Stimmen der
Delegierten bitten. Auch der mögliche Nachfolger Münteferings, mag er
nun Kurt Beck oder Matthias Platzeck heißen – mehr amtierende
Ministerpräsidenten hat die SPD nicht mehr aufzubieten –, wird sich
noch gut überlegen müssen, ob Nahles nach dieser Vorgeschichte noch
geeignet ist für ein neues Führungsgespann.
Ob die Aktion in der SPD-Spitze nun ein Linksruck sein sollte oder
nur ein missglückter Generationenwechsel, auf jeden Fall wirkt es wie
eine Verschwörung pubertierender Enkel oder vielmehr Urenkel. Ein
bisschen die Macht versuchen, um dann mit der Bemerkung
zurückzuziehen: „So war es doch nicht gemeint“, ist vor allem unreif.
Beim Bürger und Wähler hinterlässt es nacktes Entsetzen darüber, dass
diese Menschen danach streben, die Geschicke einer der größten
Industrienationen der Welt zu lenken. Da hilft es auch nicht mehr,
wenn nun – im zweiten Durchgang – Alt-Linke Heidemarie Wieczorek-Zeul
als Vizevorsitzende der SPD ihren Platz für die jüngere Generation
räumen will.
Kaum besser geht es in der CSU zu. Bayerns Ministerpräsident
Edmund Stoiber, der schon während des Wahlkampfs Allüren eines
Sonnenkönigs an den Tag legte, als er sich zunächst nicht entscheiden
konnte, ob er überhaupt in die Bundespolitik kommen will, und dann
anfing, Posten zu picken, nutzt nun die erstbeste Gelegenheit zu
einem Rückzieher. Auch ihm fehlt der Blick fürs Ganze, nur lässt es
sich bei ihm nicht einmal mit jugendlichem Leichtsinn entschuldigen.
Stoiber hatte CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel schon im Wahlkampf
in Schwierigkeiten gebracht. Weil er zwar Finanzminister sein wollte,
aber vor den Schwierigkeiten dieses Amtes zurückschreckte,
präsentierte Merkel in ihrem Schattenkabinett schließlich den
Politik-Neuling Paul Kirchhof, der sogleich in alle aufgestellten
Fallen tappte und die Union reichlich Stimmen kostete. Als das Amt
des Finanzministers dann doch zum Greifen nah war, schlug Stoiber es
aus und ließ sich stattdessen ein Wirtschaftsministerium zum
Geldverteilen backen. Schließlich drückte er Merkel noch deren
Intimfeind Horst Seehofer ins Kabinett.
Dass Stoibers Verrenkungen unionsintern nur mit größter Disziplin
ertragen worden sind, beweist die offene Erleichterung, die sein
Rückzug provoziert hat. Der Wirtschaftsrat der CDU frohlockte und
hofft nun auf „ordnungspolitische Neuorientierung“ und
„marktwirtschaftliche Lösungen“. Das war verfrüht. Der langjährige
CSU-Landesgruppenvorsitzende, Michael Glos, den Stoiber nun für das
Amt des Wirtschaftsministers vorschlägt, ist ein erfahrener Taktiker
und rhetorisch begabter Politiker. Ein Wirtschaftsexperte ist er aber
wirklich nicht. Als Hoffnungsschimmer bleibt, dass Stoiber sich
selbst so unmöglich gemacht hat, dass seine Querschläge kaum noch
schmerzen.
Einen ganzen Tag lang abgetaucht blieb die Frau, die immerhin das
Kanzleramt anstrebt. Merkel schickte ihren Generalsekretär Volker
Kauder vor, der „business as usual“ versuchte, indem er trotzig die
Fortsetzung der Koalitionsverhandlungen verkündete. Von Seiten der
SPD muss der designierte Außenminister und Noch-Kanzleramtschef
Frank-Walter Steinmeier herhalten, diese Absicht auch für die
Sozialdemokraten zu bekräftigen, weil alle anderen Parteigrößen
derzeit ohnehin durcheinander reden und keine Linie erkennen lassen.
Selbst wenn Müntefering doch ins Kabinett einziehen sollte, selbst
wenn er sogar Parteivorsitzender bleiben könnte, weil Wieczorek-Zeul
Platz für Nahles macht, geht er geschwächt aus der Rebellion hervor.
Er kann nicht mehr der Garant für eine stabile Koalition sein, der
für die Gefolgschaft der Partei bei schwierigen Entscheidungen des
Kabinetts steht. Die Regierungsbildung steht damit wieder am Anfang.
Denn auch wenn Müntefering die Verhandlungen fortführen wird, wer
wird sich später in der SPD daran gebunden fühlen? Die große
Koalition scheint am Ende, noch bevor sie gestartet ist. Nach 44
Tagen Personalquerelen seit der Wahl und ohne inhaltliche
Fortschritte – mit Ausnahme einiger weniger Positionen, die nur den
Status quo zementieren – ist die Grenze der Zumutbarkeit
überschritten. Die FDP hat sich wieder als Koalitionspartner ins
Spiel gebracht. Die Grünen zieren sich freilich. Ihre
Rollenverteilung sollten sie aber nach dem Desaster in der SPD
überdenken. Und sei es auch nur, um disziplinierend auf die
Verhandlungen der großen Koalitionäre zu wirken.
(Börsen-Zeitung, 2.11.2005)

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