Lausitzer Rundschau: GASTKOMMENTAR VON HANS-DIETRICH GENSCHER, EX-BUNDESAUSSENMINISTER Was lehrt uns der 9. November 1989?
Cottbus (ots)
Richard von Weizsäcker verdanken wir die Feststellung: Unsere Geschichte hat uns nie allein gehört. Man möchte hinzufügen: Und sie wird uns nie allein gehören. Wir sind das Volk in der Mitte Europas, das Land mit den meisten Nachbarn. Was in Deutschland geschieht, zum Guten wie zum Schlechten, hat Auswirkungen auf den ganzen Kontinent. Das ist nicht Anmaßung, aber es bedeutet Verantwortung, größere Verantwortung. Der Fall der Mauer am 9.November 1989 bedeutete das Ende der Teilung Berlins, Deutschlands, Europas und der Welt. Er bedeutete das Ende des kalten Krieges. Das macht verständlich, warum dieser Tag weltweit so wichtig ist und auch so wichtig genommen wird. Kam der Fall der Mauer von selbst? Keineswegs. Es lohnt sich, zurückzublicken auf den Tag der Errichtung der Mauer, auf den 13.August 1961. Was veranlasste die damalige DDR-Führung, eine Stadt und ein Land durch Mauer und Stacheldraht zu trennen? Der Bau der Mauer war ein Akt der Brutalität und gleichzeitig der Tag des Eingeständnisses einer unumkehrbaren Niederlage. Die SED-Führung hatte erkannt, der Wettbewerb der Systeme - zwischen Demokratie und sozialer Marktwirtschaft auf der einen Seite und dem real existierendem Sozialismus auf der anderen Seite - war für den Sozialismus verloren. Die Menschen liefen dem System davon. Dorthin, wo sie nach ihrer Überzeugung ihren eigenen, auf Freiheit und Menschenwürde gegründeten Lebensentwurf verwirklichen konnten. In manchen Monaten waren es täglich 1000Flüchtlinge und mehr. Das bedeutete, das Volk lief dem System davon. Die Konsequenz, die man zog, war die falsche. Sie hieß nicht Systemänderung, sie hieß Fenster und Türen zu - wenn das Volk davonlaufen will, muss man es durch eine Mauer daran hindern. Die geschichtliche Wahrheit bestätigte sich erneut: Man kann Entwicklungen verzögern - aufhalten kann man sie auf Dauer nicht. Es kommt der Tag, an dem auch die höchste Mauer überflutet wird, an dem auch die stärkste Mauer unter dem Druck des Volkswillens nicht mehr standhält. Immer wieder hatte es im sowjetischen Machtbereich den Versuch gegeben, der Entwicklung eine neue Richtung zu geben und auf Öffnung und Offenheit zu drängen. 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei, in Polen mit dem Aufkommen von Solidarnosc. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts war alles anders. Hatten in der DDR, in Ungarn und in der Tschechoslowakei sowjetische Panzer das Verlangen nach Freiheit niedergewalzt, standen diese Panzer 1989 nicht mehr zur Verfügung. Eine neue Führung in Moskau, Gorbatschow, Schewardnadse und Jakowlew, eröffneten eine Revolution von oben. Reformer in Ungarn beschritten den eigenen ungarischen Weg. Ein polnischer Papst in Rom machte seinem Heimatvolk neuen Mut. Bürgerrechtler in der DDR nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Die evangelischen Gotteshäuser wurden zum Versammlungsort der Entschlossenen und der Verzweifelten, aber stets der Friedfertigen. Friedrich Schorlemmer und Jens Reich, Bärbel Bohley und Rainer Eppelmann wurden weit über ihren Wirkungskreis hinaus bekannt. Lech Walesa und Vaclav Havel gaben genauso wie Andrej Sacharow den Menschen neuen Mut. Aus einer vorrevolutionären Lage wurde eine Freiheitsrevolution. Was alle die unterschiedlichen Akteure einte, war ihre Friedfertigkeit. Keine Gewalt! Es wurde am 9.Oktober 1989 in den Straßen von Leipzig zum Mahnruf, den alle hörten und beachteten. Die friedfertigen Revolutionäre genauso wie die Uniformierten, die ihnen entgegengestellt wurden. So wurde 1989 nicht nur zu einem Freiheitsjahr, sondern zu einem Friedensjahr. Und wichtig genug: zu einem europäischen Friedensjahr. Es waren nicht mehr nur Demonstrationen in einem Land. Es war eine europäische Freiheitsrevolution. Man kann heute sagen: In der ganzen und oft blutigen Geschichte Europas waren sich die Völker Europas niemals so einig und so nah wie 1989. Das ist das große, das kostbare Vermächtnis der europäischen Freiheitsrevolution vor 20 Jahren. Wir sollten uns dieses Vermächtnisses nicht nur erinnern, sondern auch in Zukunft danach handeln. Was 1989 geschah, war ein Volksaufstand im wahrsten Sinne des Wortes. Genauso wahr ist: Die Mauer ist vom Osten her zum Einsturz gebracht worden. Mit dem Willen zur Freiheit, mit der Gesinnung des Friedens und mit bloßen Händen. Was der Westen tun konnte, war etwas anderes. Er schuf mit der Politik des Dialogs und der Zusammenarbeit mit dem Osten, mit den deutschen Ostverträgen und mit der Schlussakte von Helsinki einen Rahmen und ein politisches Klima, in dem die Entwicklungen der Jahre hin zu 1989 ohne Gefahr für die Stabilität möglich wurden. Seit 20 Jahren gestalten Deutsche und Europäer ihre Zukunft gemeinsam. Die Erweiterung der Europäischen Union um unsere Nachbarn in Mittel- und Südosteuropa ist eine historische Leistung. Heute können wir feststellen: Europa, das in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts das Opfer zweier Weltkriege wurde, wobei Hitlers Vernichtungskrieg in seiner Einmaligkeit alles Dagewesene übertraf, hat gezeigt, dass man aus der Geschichte lernen kann. In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts ist in Europa eine neue Kultur des Zusammenlebens der Völker entstanden, der kleinen und der größeren, denn sie sind alle nicht nur gleichberechtigt, sie sind ebenbürtig. Heute, da es darum geht, eine neue Weltordnung zu gestalten, sollte Europa sein Beispiel als die Botschaft an die Völker der Welt verstehen. Europa hat diese Botschaft! Europa ist mit dieser Botschaft nicht allein. In vielen Teilen der Welt blickt man mit Vertrauen und mit Hoffnung auf dieses, das neue Europa. Vor einem Jahr hat sich das amerikanische Volk im Bewusstsein seiner großen Freiheitstradition auch für einen solchen Weg entschieden. Das ist eine gute Voraussetzung für das neue Jahrzehnt, an dessen Schwelle wir stehen. Es gilt, den großen europäischen Raum zu gestalten. Einen Raum, der Russland einschließt. Das große russische Volk ist unser natürlicher Partner und nicht unser natürlicher Gegner. Aber Europa hat eben auch eine Verantwortung für die neue Weltordnung, die den Gedanken der Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit auch gegenüber den Völkern auf der südlichen Halbkugel zur Geltung bringen muss. Auch das gehört zum Auftrag der großen Freiheits- und Menschlichkeitsbotschaft des Jahres 1989.
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