Hundert Tage nach dem Erdbeben in Pakistan
Weiterhin Probleme bei der Hilfe - "zweite Katastrophe" droht
Hinweis für Redakteure: Bitte beachten Sie die Anmerkungen im Anschluss an die Presseerklärung.
Berlin / Islamabad (ots)
100 Tage nach der schlimmsten Naturkatastrophe in der Geschichte Pakistans haben die Überlebenden des verheerenden Erdbebens die Gefahren und Schwierigkeiten noch längst nicht überstanden, warnt Oxfam International.
Die Lebensbedingungen der Erdbeben-Überlebenden in den offiziellen Zeltlagern sind weiterhin schwierig, insbesondere seit dem Einbruch des strengen Winters im Himalaja. In den zahlreichen spontan errichteten Lagern werden nicht einmal die grundlegendsten Bedürfnisse der Bewohner gedeckt.
"Das Erdbeben ist schon 100 Tage her, aber wir arbeiten hier noch immer an der Soforthilfe; ein Ende der Krise ist noch nicht absehbar. Dabei haben wir schon großes Glück gehabt, dass die schweren Schneefälle erst jetzt und nicht schon früher begonnen haben. Die Herausforderung ist nun, die gefährdeten Menschen zu erreichen, bevor es zu spät ist", sagt Farhana Faruqi Stocker, Oxfam-Landesdirektorin für Pakistan.
Aufgrund des schwierigen Geländes und der geringen Infrastruktur in der Himalajaregion haben die örtlichen Behörden und die Hilfsorganisationen ganze Berge von Problemen zu bewältigen - im wörtlichen Sinn. Zahlreiche Dörfer sind über Straßen nicht mehr zu erreichen.
Das Erdbeben hat viele der vorhandenen Straßen beschädigt. Zudem sind die Straßen oft durch Erdrutsche - ausgelöst durch Nachbeben oder Regen - oder nun durch die schweren Schneefälle seit Wintereinbruch blockiert.
Die UN-Hilfe wird dadurch erschwert, dass es zu wenig Zusagen auf den Hilfeaufruf der UN gegeben hat. Nur gut die Hälfte der notwendigen Finanzmittel - 300 Mio. US$ statt der erforderlichen 549 Mio. US$ - stehen bislang zur Verfügung.
"Die internationale Gemeinschaft muss die pakistanischen Behörden und die UN stärker unterstützen, damit die Koordination und das Management der Hilfemaßnahmen verbessert werden können", so Stocker.
"Zumindest international vereinbarten Minimalstandards für Flüchtlingslager, die so genannten SPHERE-Standards, müssen eingehalten werden. Ebenso muss der Übergang von militärischer zu ziviler Zuständigkeit behutsam und angemessen vonstatten gehen."
Wegen Unklarheit über die Zuständigkeiten für die Verteilung von Lebensmitteln und anderer dringend benötigter Bedarfsartikel sind Menschen in den kleineren, spontan errichteten Lagern von Hilfslieferungen nicht erreicht worden.
Das schlechter gewordene Wetter hat neue Gefahren mit sich gebracht, die allerdings vorhersehbar waren. Viele der Zelte, die nach dem Erdbebeben schnellstmöglich in das Katastrophengebiet gebracht worden waren, haben sich als unbrauchbar unter Winterbedingungen herausgestellt. Oxfam ist, wie viele andere Nichtregierungsorganisationen auch, intensiv dabei, gelieferte Zelte winterfest zu machen und Baumaterial für festere Unterkünfte bereitzustellen.
Oxfams Warnung vor einer möglichen "zweiten" humanitären Katastrophe ist nach wie vor begründet. Sie bezieht sich auf besonders gefährdete Personengruppen wie Kinder und ältere Menschen, die in leichten Zelten in entlegenen Gebieten oberhalb der Schneegrenze Zuflucht gesucht haben, wo sie für Hilfslieferungen nur schwer erreichbar sind.
Mit sinkenden Temperaturen haben kältebedingte Erkrankungen wie Lungenentzündung zugenommen. Mehrere Todesfälle sind bereits in der Region gemeldet worden.
Die Suche nach Möglichkeiten sich aufzuwärmen birgt neue Risiken, insbesondere in den überfüllten improvisierten Lagern. Es gibt Berichte über mehrere Todesfälle und Verletzungen durch außer Kontrolle geratene Feuerstellen in Zelten. Aufgrund des Kälteeinbruchs bis auf -15 Grad C in einigen Gebieten haben die Behörden im pakistanisch verwalteten Teil von Kaschmir sich dennoch dazu entschieden, Petroleumöfen an die Lagerbewohner zu verteilen.
Oxfam ist der festen Überzeugung, dass die Planung und Durchführung des Wiederaufbaus beschleunigt werden muss, damit die Erdbebenopfer ihr Leben neu aufbauen können. Allein im pakistanischen Kaschmir wurden 80% der Ernte und 50% des Ackerlandes vernichtet, sowie über 100.000 Rinder getötet.
Besonderes Augenmerk erfordern auch Landbesitz- und Umsiedlungsfragen, speziell im Hinblick auf die Rechte von Frauen. Viele wurden durch das Beben verwitwet und können ihr Eigentum an Grund und Boden nicht rechtswirksam belegen.
Darüber hinaus dürfen sich die Bemühungen nicht darauf beschränken, die vor der Katastrophe vorhandenen armseligen Lebensverhältnisse nur wieder herzustellen. Der Wiederaufbau muss deutlich darüber hinausgehen. Die Behörden sollten im Zuge des Wiederaufbaus auch dafür sorgen, dass die Bevölkerung durch zukünftige Erdstöße weniger gefährdet ist. In Ausschreibungen für Bauvorhaben sollten beispielsweise Anforderungen zur Erdbebensicherheit enthalten sein.
Auf der Konferenz von 65 Geberländern am 19. November 2005 wurden der pakistanischen Regierung 5,8 Mrd. US$ für Wiederaufbau und Rehabilitierung versprochen.
"Besorgniserregend ist, dass ein großer Teil der Mittel (rund 4 Mrd. US$) nur als Darlehen zur Verfügung steht, wenngleich zu günstigeren Konditionen. Wir haben Bedenken bezüglich der längerfristigen Leistung von Zins- und Tilgungszahlungen", erklärt Oxfam-Sprecherin Stocker.
Über drei Millionen Menschen waren betroffen, als am 8. Oktober ein Erdbeben der Stärke 7,6 auf der Richter-Skala das nördliche Pakistan erschütterte. Von Hunderten von Städten und Dörfern blieben nur Trümmerfelder.
Man geht davon aus, dass im pakistanisch verwalteten Teil von Kaschmir und der angrenzenden Nordwest-Grenzprovinz mindestens 73.000 Tote und eine noch größere Zahl von Verletzten zu beklagen sind.
Rund 2,5 Millionen Menschen wurden obdachlos. Etwa 185.000 von ihnen leben in über 40 offiziellen und 333 spontan errichteten, registrierten Lagern. Darüber hinaus sind zahlreiche kleinere, unregistrierte Zelt-Dörfer entstanden.
Mehr als zwei Millionen Menschen sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Rund die Hälfte davon wird von Hilfsorganisationen versorgt. Nach wie vor bestehen hinsichtlich der Bereitstellung von Nahrung für viele der Erdbebenopfer schwerwiegende Probleme.
Oxfam ist in über 131 Lagern im gesamten Erdbebengebiet aktiv und stellt Wasserversorgung und Sanitäreinrichtungen für bislang mehr als 300.000 Menschen bereit.
Mehr als 180.000 Überlebenden des Erdbebens hat Oxfam mit Notunterkünften geholfen, einschließlich Zelten sowie Baumaterial für festere Unterkünfte, "Bandis" genannt.
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Hinweis für Redakteure
Die humanitäre Situation
- Es wird geschätzt, dass 400.000 Überlebende oberhalb der Schneegrenze leben. Aufgrund der Kälte kam es bislang zu mindestens 18 Todesfällen, was aber noch nicht einen Anstieg der normalen Sterblichkeitsrate bedeutet. Allerdings steigt die Zahl der Lungenentzündungen, und Behandlungen von schweren Erkrankungen der oberen Atemwege machen in dem Gebiet 80% aller Behandlungen aus.
- Von den zwei Millionen Menschen, die durch das Erdbeben obdachlos wurden, wurden rund 20% aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten vertrieben. Etwa 1,7 Millionen Menschen sind in Zelten untergebracht. Eine noch unbekannte Zahl von Menschen, die durch das Beben ihre Häuser aufgeben mussten, sind in den Bergen geblieben, häufig in improvisierten Zelt-Dörfern.
- Inzwischen wurde die erste Phase der UN-Rettungsaktion "Winter Race" abgeschlossen, ein Programm mit dem Ziel, den schlimmsten Folgen des Wintereinbruchs zu begegnen. Diese Phase Eins konzentrierte sich auf Hilfsbedürftige, die in Höhenlagen über 1.500 Meter leben. Inzwischen zielen die Hilfsmaßnahmen auch auf den Bau von Unterkünften in niedrigeren Lagen. Bislang wurden im Rahmen der Aktion mehr als 3,3 Millionen verzinkte Wellblechplatten sowie 4,8 Millionen Decken verteilt und rund 133.000 winterfeste Notunterkünfte errichtet.
Versorgungsengpässe
- Die Bedingungen in den überfüllten Lagern mit unzureichender Entwässerung sind inzwischen durch die verschlechterten Wetterbedingungen unerträglich. Nur in wenigen Lagern werden die SPHERE-Standards eingehalten (international vereinbarten Mindeststandards für Katastrophenhilfe). Die Entwässerung ist inzwischen, bedingt durch Schnee und Regen, ein äußerst dringendes Problem.
- Die meisten Zelte, die schnellstmöglich in die Region gebracht worden waren und eine provisorische Lösung sein sollten, haben sich unter Winterbedingungen als ungeeignet erwiesen. Von den mehr als 250.000 verteilten Zelten waren Mitte Dezember 74% nicht hinreichend winterfest.
- Große Lücken gibt es immer noch bei der Bereitstellung von Nahrungsmitteln, sowohl in den planmäßig als auch in den spontan errichteten Lagern. Den Menschen fehlen die notwendigen Kochmöglichkeiten und geeignete Nahrungsmittel in angemessener Menge, um die eisigen Wintertemperaturen zu überstehen. Das UN-Welternähungsprogramm schätzt, dass rund 40% der Hilfebedürftigen nicht in genügender Menge mit Nahrung versorgt werden.
Was muss getan werden?
- Quantität und Qualität der Hilfemaßnahmen müssen erhöht werden, um das Problem der bestehenden Versorgungslücken und -engpässe zu lösen. Es muss sichergestellt werden, dass alle beteiligten Organisationen die humanitären Prinzipien der Bereitstellung von Hilfe verstehen und anwenden.
- Die Koordination muss verbessert werden, um die Versorgungslücken zu schließen. Die UN-Behörden müssen die nötige Führungsrolle dabei übernehmen, um die angemessenen Akteure zu identifizieren, die diese Lücken schließen können. Die UN, die Geberländer und die Regierung von Pakistan müssen Nichtregierungsorganisationen an den strategischen Koordinationsmechanismen für die Planung und Umsetzung von humanitärer Hilfe und Wiederaufbau beteiligen.
- Dringend benötigt wird in den spontan errichteten Lagern ein besseres Lager-Management. Verfahren und Rollen im Lagermanagement, die auf die Bereitstellung von Hilfe in den Lagern Einfluss haben, müssen klar definiert und auf allen Ebenen vorbehaltlos unterstützt werden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass klare und transparente Verfahren voll umgesetzt und an diejenigen kommuniziert werden, die für die Auslieferung von Hilfsgütern verantwortlich sind. Die UN muss sicherstellen, dass ein Mangel an Klarheit im Lager-Management nicht die Koordinationsleistung der Hilfeanstrengung beeinträchtigt.
- Die Hilfsoperation der Vereinten Nationen wird weiterhin durch die unzureichende Unterstützung durch die internationalen Geber eingeschränkt. Die UN hat nur 56% der Finanzmittel zur Verfügung, die notwendig wären, um die humanitäre Hilfe über den Winter fortzuführen. Zwar haben die Geberstaaten der pakistanischen Regierung großzügig einen erheblichen Betrag für ihre Nothilfe und Wiederaufbau-Bemühungen versprochen, aber diese Versprechungen müssen nun zügig umgesetzt werden.
Pressekontakt:
Kontakt: Paul Bendix, 030 - 42851029, pbendix@oxfam.de,
Oxfam International: Shaheen Chughtai, +92 300 856 0632
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