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Berliner Morgenpost: Otto Normalwähler und die Sommermärchen - Leitartikel

Berlin (ots)

So. Nun sind die politischen Sommerferien
einigermaßen vorbei, und Otto Normalwähler reibt sich verwundert die 
Augen angesichts dessen, was da gerade über ihn hinwegrollt. 
Vollbeschäftigung, Steuersenkungen flächendeckend, Bildungsoffensive,
Steinmeier kann Kanzler werden, Schweinegrippeschutz für alle gratis!
Ohne Rücksicht auf Verluste wird geschwindelt, bis die Nase juckt, 
kein Wahlkampfschlager ist zu verstaubt, als dass er nicht noch 
einmal aufgelegt werden könnte. Hurra, Deutschland, wir haben die 
Haare schön. Und wenn's drauf ankommt, versaufen wir auch noch unser 
Oma ihr kleines Häuschen. Man fasst es gar nicht so richtig.
War nicht eben noch Krise? Schrumpft unsere Wirtschaft nicht gerade 
um sieben Prozent gegenüber dem Vorjahr, eine gigantische rote Zahl, 
die es noch nie gegeben hat seit anno Tobak? Wie hoch genau war noch 
unser Schuldenberg? Um wie viel Milliarden wächst er absehbar in der 
kommenden Legislaturperiode? Wie lange werden wir buckeln müssen, um 
das wieder reinzuholen, was wir gerade in die Krisenbekämpfung 
stopfen? Wie viele Arbeitsplätze werden verloren gehen in diesem und 
im kommenden Jahr? Wie lange können wir es uns noch erlauben, die 
Statistik schönzufärben mit Kurzarbeitergeld? Wie hoch werden die 
Abgaben steigen in den kommenden vier Jahren? Was passiert dann mit 
den Renten? Wer zahlt dann wessen Krankenversicherungsbeiträge? Was 
passiert eigentlich, wenn eine der maladen Landesbanken in die Knie 
geht, Bürgschaften fällig werden in schwindelerregenden Höhen? 
Probleme, über deren Lösung man ja mal ein paar Sätze verlieren 
könnte im Wahlkampf.
Was diese Republik statt der gerade anhebenden üblichen 
Wadenbeißerei, statt sommerlicher Märchenstunden bräuchte in den 
kommenden sechs Wochen, ist eine ehrliche Debatte um die besseren 
Konzepte, aber nicht für Vollbeschäftigung an St. Nimmerlein oder 
fiskalischen Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Sondern um die Frage, 
was wirklich geht in den kommenden vier Jahren. Und was nicht.
Man kann dann auch über Steuersenkungen reden, aber nur wenn man 
gleichzeitig wieder über das Streichen jener Steuerprivilegien 
spricht, die dann zwingend fallen müssen. Oder um Dinge, die wir 
künftig eben nicht mehr erwarten dürfen von Vater Staat. Man muss ja 
nicht Adam Riese oder Peer Steinbrück heißen, um zu sehen, dass 
zusätzliche Staatsausgaben nicht finanzierbar sein werden, wenn man 
einigermaßen erhobenen Hauptes vor seine Kinder treten will. Oder 
wenn man ernst machen will mit weiteren Investitionen in die Bildung.
Wo soll das Geld denn herkommen bei einbrechenden Staatseinnahmen 
aller Art?
Darüber, über das, was an Belastungen zukommen wird auf uns 
Bundesbürger, über das, was wir anpacken müssen, um wieder auf einen 
grünen Zweig zu kommen, darüber redet kaum einer in den ungezählten 
Interviews, Reden und Artikeln, mit denen wir derzeit überhäuft 
werden. Darüber steht erst auch nichts im schwelgerischen 
Deutschland-Plan des Kandidaten. Und die Kanzlerin spart schon mal, 
vorsichtshalber, am Konkreten. Sie weiß, warum.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

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