All Stories
Follow
Subscribe to BERLINER MORGENPOST

BERLINER MORGENPOST

Berliner Morgenpost: Eine Mehrheit ist eine Mehrheit

Berlin (ots)

Wir erleben gerade, wie vor der Wahl ein Popanz
aufgebaut wird. Der Vorwurf: Sollte Angela Merkel eine schwarz-gelbe 
Koalition nur mithilfe von Überhangmandaten erreichen, wäre ihre 
zweite Kanzlerschaft illegitim. Das ist eine Behauptung, die ein 
problematisches Demokratieverständnis offenbart und im weltweiten 
Vergleich auch reichlich provinziell ist.
Zunächst die Fakten: Das Verfassungsgericht hat das Verfahren, mit 
dem 2005 Wählerstimmen in Mandate umgewandelt wurden, für 
verfassungswidrig erklärt. Die Richter sprachen sich nicht generell 
gegen Überhangmandate aus, sondern gegen einen kuriosen 
mathematischen Mechanismus bei ihrer Berechnung, der in manchen 
Fällen bewirkt, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an 
Sitzen der Landeslisten führt - oder umgekehrt. Deshalb muss das 
Gesetz bis 2011 geändert werden.
Da sich im Bundestag keine Mehrheit fand, das Wahlgesetz vor jener 
Frist zu ändern, ist es vollkommen legal, wenn noch einmal nach den 
alten Regeln gewählt wird. Die Natur der Demokratie besteht ja darin,
widerstreitende politische Interessen in gemeinschaftlich akzeptierte
Verfahren einzubinden. Deshalb ist es gefährlich, wenn Politiker nun 
den Anschein erwecken, als könnte eine Wahl, die konform geht mit den
Verfahrensweisen der deutschen Demokratie, illegitim sein. Das ist 
sie nicht.
In der Argumentation von Grünen, SPD und Linken scheint aber auch ein
radikal-puristisches Verständnis von Verhältniswahlrecht auf. Ganz 
so, als könnte nur ein Modus, der die abgegebenen Zweitstimmen eins 
zu eins in Mandate übersetzt, wirklich demokratisch sein. Dabei ist 
die Bevorzugung der Erststimme und damit des Wahlkreiskandidaten 
gegenüber abstrakten Landeslisten eines der wenigen personalen 
Elemente eines Systems, das ansonsten gänzlich den Parteiapparaten 
überantwortet ist.
Wie provinziell diese Vorstellung ist, zeigt ein Blick ins Ausland. 
Sowohl die USA mit ihren Wahlmännern als auch Großbritannien pflegen 
das Mehrheitswahlrecht, das eine Zersplitterung in Kleinstparteien 
verhindert, wie sie beim Verhältniswahlrecht leicht eintritt. Davon 
können etwa Israelis und Italiener ein Lied singen, die kein 
Mehrheitswahlrecht kennen. Da deren Regierungen in den 90ern immer 
instabiler wurden, wollten beide Länder klarere Verhältnisse 
schaffen. In Israel wurde 1996 die Direktstimme für den Premier 
eingeführt neben der für Parteien. In Italien bekommt die stärkste 
Partei einen "Bonus", der die Mehrheit stabilisiert. All das ist 
keineswegs undemokratisch.
Die Deutschen hingegen hatten über Jahrzehnte eine überschaubare 
Parteienlandschaft mit relativ stabilen Regierungen. Im neuen 
Fünfparteiensystem sind die Überhangmandate nun aber notwendiger denn
je, um Mehrheiten jenseits der großen Koalition zu ermöglichen. Diese
zum Dauerzustand zu machen schadet der Demokratie mehr als der kleine
Bonus der Überhangmandate. Problematisch ist eher, dass nicht immer 
die stärkste Partei vom Überhang profitiert. Das vor allem gilt es zu
ändern.

Pressekontakt:

Berliner Morgenpost

Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de

Original content of: BERLINER MORGENPOST, transmitted by news aktuell

More stories: BERLINER MORGENPOST
More stories: BERLINER MORGENPOST
  • 21.09.2009 – 19:22

    Berliner Morgenpost: Pflichtbewusste Politiker, gelassene Bürger

    Berlin (ots) - Die Lage ist ernst, die meisten Menschen wissen es, haben aber gelernt, damit umzugehen. Spätestens seit dem 11.September 2001 ist der westlichen Welt bewusst, dass der islamistische Terrorismus vor keinem noch so brutalen Anschlag zurückschreckt. Die Sicherheitsvorkehrungen sind seitdem massiv verbessert worden. Trotzdem hat es weitere ...

  • 20.09.2009 – 20:49

    Berliner Morgenpost: Klarheit vor der Bundestagswahl - Leitartikel

    Berlin (ots) - Otto Normalwähler kann FDP und Grünen dankbar sein an diesem Montag vor der Bundestagswahl. Nach den deutlichen Ansagen dieses Wochenendes muss man nicht mehr lange hin und her rechnen, was denn wohl am Ende herauskommen könnte, wenn man dieser oder jener Partei seine Stimme gibt. Man muss auch nicht mehr fürchten, in den kommenden Wochen verloren zu gehen im Begriffsdickicht von ...

  • 19.09.2009 – 18:28

    Berliner Morgenpost: Das Versagen der Politik in der S-Bahn-Krise

    Berlin (ots) - Man hat sich an den Wahnsinn fast gewöhnt und fährt eben mit dem Fahrrad quer durch die Stadt. Dauert halt, aber ohne S-Bahn dauert eben vieles länger in Berlin. Das geht, solange der Herbst noch pausiert und man einigermaßen fit ist. Wer das nicht ist, muss zu Hause bleiben oder sich in den Stau einreihen, sofern er zur Minderheit der Autobesitzer in Berlin gehört. Während die Berliner die ...